100 Jahre Verfassung: Von der Ruine zum Gesamtkunstwerk?

Hintergrund von Verfassungsexperte Peter Bußjäger.
Der Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes (B -VG) in der Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 stieß in der Öffentlichkeit auf keine Euphorie. Wirtschaftliche Not und düstere Zukunftsaussichten stimmten die Bevölkerung wenig zuversichtlich. Auch dass der Beschluss einstimmig erfolgt war, konnte nicht über die tiefgreifenden politischen Divergenzen hinwegtäuschen, die eine gedeihliche Zusammenarbeit der Parteien verunmöglichten.
Es hatte nach dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 fast zwei Jahre gedauert, bis sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten als die beiden führenden politischen Lager auf die neue Verfassung verständigen konnten.
Das B-VG verwirklichte eine demokratische Republik, in der das Parlament das politische Handeln bestimmen sollte. Sie kreierte einen Bundesstaat, der ein Kompromiss war: Während die Christlichsozialen einen Föderalismus nach Schweizer Vorbild anstrebten, akzeptierten ihn die Sozialdemokraten nur widerwillig. Das Ergebnis war ein föderales System, in dem die neun Länder zwar eigenständige Gesetzgebung ausüben, das aber höchst zentralistisch ausgestaltet ist. Auch in der Exekutive dominiert der Bund. Der größte Zankapfel war der Bundesrat als Ländervertretung in der Bundesgesetzgebung. Der finale Kompromiss wurde erst erzielt, als die Sozialdemokraten den Bundesrat akzeptierten und die Christlichsozialen, dass dieser völlig machtlos sein würde.
Die im internationalen Vergleich bedeutsamste Leistung war die Einführung eines Verfassungsgerichtshofes, ein Gericht, das die von Bundesparlament und Landtagen beschlossenen Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung prüfen durfte. Dies war eine Pioniertat. Staaten wie Deutschland oder Italien haben eine solche Einrichtung erst nach 1945 übernommen. Noch heute ist etwa in der Schweiz oder in Skandinavien die in Österreich völlig geläufige Vorstellung, dass Richter die von den Volksvertretern beschlossenen Gesetze aufheben können, weitgehend fremd.
Die folgenden Jahre sollten zeigen, dass die Garantien des Rechtsstaats und der Demokratie wenig wert sind, wenn sich die politischen Eliten nicht zu ihnen bekennen. Es ist erschreckend, wie leicht es der Diktatur unter Dollfuß gelang, mit absurden Notverordnungen nicht nur den Parlamentarismus, sondern auch den VfGH auszuschalten.
Unbestrittene Grundprinzipien
Die Geschichte nach 1945 war erfolgreicher. Die Grundprinzipien der Verfassung und der VfGH als ihr Hüter sind seither unbestritten. Der Blick richtete sich freilich seit etwa den 1970er Jahren auf die Reformbedürftigkeit der Verfassung, wobei zwei Problembereiche ausgemacht wurden: Erstens das zentralistisch ausgerichtete föderale System und zweitens die zersplitterte äußere Form der Verfassung, die in der Wissenschaft sogar als Ruine bezeichnet wurde. In der Föderalismusreform konnte die Pattstellung zwischen Föderalismus und Zentralismus bis heute nicht überwunden werden. Im Österreich-Konvent von 2003 bis 2005 gelang es immerhin, die ärgsten zentralistischen Zumutungen abzuwenden. Auch an der Unübersichtlichkeit der Verfassung hat sich trotz einiger Reformen wenig geändert.
Umso wichtiger ist es, dass sie heute nicht mehr als Ruine geschmäht, sondern als das gesehen wird, was sie ist, nämlich als zwar verbesserungswürdiges, aber durchaus tragfähiges Grundgerüst eines modernen Staates. Vom Bundespräsidenten wurde ihr unlängst Eleganz und Schönheit zugebilligt. Sogar von „Gesamtkunstwerk“ war schon die Rede. Diese Zuschreibungen sind zwar übertrieben, veranschaulichen aber die Wertschätzung, die das B-VG mittlerweile erlangt hat. Auch ihre größte Bewährungsprobe seit 1945, die Corona-Krise, hat die Bundesverfassung bisher gut bestanden.
Peter Bußjäger ist Direktor des Instituts für Föderalismus und Universitätsprofessor in Innsbruck.