Sozialforscher fordert: „Arbeitslosengeld temporär erhöhen“

Covid-19: Sozialforscher sieht größere Kollateralschäden als direkte Folgen de Pandemie.
WIEN „Wir müssen den Fokus weiten“, sagt der Sozialforscher Bernd Marin, „er ist zu eng.“ Konkret: Auch nach einem halben Jahr der Pandemie stehen ausschließlich Covid-19-Fallzahlen im Zentrum: Wie viele Neuinfektionen gibt es, wie viele Hospitalisierungen und Todesopfer? Auch die konkrete Politik ist laut Marin vor allem darauf ausgerichtet, diese Zahlen niedrig zu halten. Das habe jedoch seinen Preis: „Die Kollateralschäden sind größer als die Schäden, die direkt auf das Virus zurückzuführen sind.“
Wo auch immer man hinschaut. Beispiel Gesundheit: Zumindest im Frühjahr hatte fast alles Nachrang, was nicht mit Covid19 zusammenhing. Die Betreuung chronisch Kranker wurde zurückgefahren, Vorsorgeuntersuchungen wurden ebenso abgesagt wie Operationen. Behandlungsmöglichkeiten sind damit nicht immer einfacher geworden; im Gegenteil, zum Teil haben sie sich verschlechtert.
Beispiel Bildung: Tausende Schüler waren im Lockdown nicht erreichbar für Lehrer. Oft waren das jedoch genau jene, die ohnehin schon die meiste Betreuung brauchen würden, weil zu Hause weder gelesen noch gerechnet wird mit ihnen. Sie sind nun weiter zurückgefallen.
Beispiel Wirtschaft: Allein der Anstieg der Arbeitslosigkeit hat laut Marin schwerwiegende Folgen. Jeder Prozentpunkt zusätzlich bedeute einer amerikanische Studie zufolge um 5,6 Prozent mehr Todesfälle durch Herzversagen, 3,1 Prozent mehr durch Schlaganfall und 3,6 Prozent mehr durch Suizid. Außerdem würden Gewaltverbrechen zunehmen. Für Europa, geschweige denn Österreich, gebe es keine derartigen Untersuchungen. Von Zuwächsen sei aber auch hier auszugehen.
All das würde zu einer gesamthaften Betrachtung gehören, die am besten auch anleitend für die Regierung sein sollte, wie der Sozialforscher analysiert. Wobei er Verständnis dafür zeigt, dass sie zunächst einen beengten Blick hatte: „Das ist nicht ganz unplausibel, wenn man bedenkt, wie ahnungslos wir im März und April waren in Bezug auf Corona.“ Damals sei man übervorsichtig gewesen. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) habe das eingeräumt, als er meinte, dass man lieber auf der sicheren Seite irre als auf der falschen. Zwischenzeitlich habe man jedoch enorm viel dazugelernt, so Marin: Es werde mehr getestet, sehr viele Infizierte seien symptomfrei und die Behandlungsmethoden in den Spitälern hätten sich verbessert. Laut Marin sollten diese Fortschritte dazu genützt werden, zusätzliche Kollateralschäden zu vermeiden und bestehende stärker zu bekämpfen.
So werde man nicht umhinkommen, die Höhe des Arbeitslosengeldes zu überdenken. In Österreich würden Männer und Frauen ohne Job gemessen an ihrem Letzteinkommen relativ wenig bekommen; die sogenannte Nettoersatzrate beträgt 55 Prozent. In gewöhnlichen Zeiten sei das ein Anreiz, möglichst schnell wieder eine Beschäftigung anzunehmen. Aufgrund der Wirtschaftskrise gebe es nun in absehbarer Zeit jedoch kaum freie Stellen. „Das ist eine andere Situation“, sagt Marin und fordert, die Nettoersatzrate „zumindest temporär hinaufzusetzen“.