Gerold Riedmann

Kommentar

Gerold Riedmann

Insel der Seligen

Politik / 19.03.2021 • 22:21 Uhr

Tatsächlich. Nun sitzt man im Gasthaus. Mit Glück, denn auf praktisch allen Tischen stand das Reserviert-Schild. Es hat sich also nicht die Angst von Wirten bestätigt, dass es den Menschen zu umständlich sein könnte, sich zu testen. Es war eher einigen Wirten offenbar zu umständlich, im engen Regelkorsett aufzusperren. Die Plätze sind knapp; die Gasthäuser, die offen haben, sind gut reserviert.

Nachdem die Maske ab- und die Bestellung aufgenommen wurde, kommt unweigerlich die Überlegung, wann das eigentlich das letzte Mal so gewesen sei, dass man so gemütlich im Gasthaus zusammensitze. Muss ein halbes Jahr her sein, mindestens. Es hat den Reiz des ersten Mals: Neugierde, Begeisterung, ein bisschen schlechtes Gewissen. Und dann der Neid der anderen. Im konkreten Fall von haufenweise Nicht-Vorarlbergern.

“Landeshauptmann Markus Wallner hat angesichts der niedrigen Infektionszahlen gut daran getan, für den Sonderstatus zu kämpfen. Doch ist es extrem unwahrscheinlich, dass die Zahlen so niedrig bleiben.

Die Gastronomie oder die vorsichtigen Versuche mit Veranstaltungen sind sehr sichtbare Zeichen von etwas neuer, alter Normalität, doch Begeisterung spricht vor allem auch aus den Kindern und Jugendlichen, wenn sie vom Turn- oder Fußballtraining erzählen, das nach einem halben Jahr wieder stattfinden kann. Kinder: dank der umsichtig-frühzeitig organisierten Schultests von Bundesminister Heinz Fassmann die bestgetestete Bevölkerungsgruppe.

Und die Teststraßen werden überrannt: schon die Selbsttests unter Aufsicht, bei der der Teststab nicht mehr bis gefühlt knapp vor die Hirnrinde gerammt wird, sondern selbst ein bisschen Nase gebohrt wird, sind für oft getestete Nasen eine herrliche Erleichterung. Und wenn es gelingt, die Wohnzimmertests auch in der Gastronomie zu akzeptieren, dann ist das ein Durchbruch.

Der Vorarlberger Modellversuch zeigt, wie sehr wir uns nach einer Zeit sehnen, in der es der Politik gelingt, die Corona-Krise tatsächlich zu managen. Nachdem Vorarlberg zum Höhepunkt der zweiten Welle im Oktober und November die Kontrolle zeitweise verloren hat, wie auch Landeshauptmann Markus Wallner damals zugeben musste, hat sich vor allem das Contact-Tracing nun deutlich verbessert. In den vergangenen Wochen haben die strengen Kontrollen nach Tirol und die für Privatpersonen in alle Richtungen praktisch geschlossene Grenzen Vorarlberg zu dem gemacht, was die Vorarlberger ohnedies gerne für ihr Land beanspruchen: privilegiert, eine Insel der Seligen. Das zeigt sich auch in einem unglaublich niedrigen Anteil an Virusmutationen.

Landeshauptmann Markus Wallner hat angesichts der niedrigen Infektionszahlen gut daran getan, für den Sonderstatus zu kämpfen. Doch ist es extrem unwahrscheinlich, dass die Zahlen so niedrig bleiben. Wallner und seine Verwaltung werden auf absehbare Zeit nahezu gänzlich nur daran zu bewerten sein, ob sich die Pandemie mit dem Vorarlberger Weg halbwegs unter Kontrolle halten lässt: so viele Tests wie noch nie, Kontakte im Infektionsfall effizient nachverfolgen, Impfungen nach den anfänglichen Fehl-Injektionen schnellstmöglich vorantreiben.

Allein, dass die Sieben-Tage-Inzidenz in allen anderen Bundesländern mindestens knapp dreimal höher ist, zeigt zum heutigen Zeitpunkt, dass kein anderes Bundesland nach der zweiten Welle so effektiv wie Vorarlberg war, die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen.

Wir müssen unseren Tisch im Gasthaus freimachen, die nächste Schicht kommt. Spätestens beim Desinfektionsständer am Ausgang ist klar: Frühere Selbstverständlichkeiten sind heute Glücksmomente.

Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.

Twitter: @gerold_rie