Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Fremdwort Solidarität

Politik / 23.08.2021 • 05:00 Uhr

Was vermisse ich bei den Impfverweigerern (m/w/d) am meisten? Den völligen Mangel an Solidarität. Wir haben in diesem Sommer viele Zeichen an Solidarität erlebt: Einsätze unter Lebensgefahr von Feuerwehrleuten und privaten Helfern bei den Hochwasser-, Muren- und Feuerkatastrophen. Doch für die Impfverweigerer ist Solidarität ein Fremdwort. An sie hätte ich ein paar Fragen. Wie solidarisch sind Sie mit Kindern? Denn Kinder unter 12 Jahren stecken sich, etwa in den USA, immer häufiger mit der hochinfektiösen Delta-Variante an. Sie können zum Teil schwer erkranken, können aber erst im kommenden Jahr geimpft werden, weil der Impfstoff für sie erst dann zugelassen wird. Fast die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer ist der Ansicht, dass es bei vielen Schülern gravierende Lernrückstände als Folge der Schulschließungen gibt. Sollen diese Rückstände noch größer werden, wenn die Schulen wieder geschlossen werden müssen? Wie solidarisch, werte Impfverweigerer, sind Sie mit den Handels- oder Apotheken-Angestellten, die wohl lange noch während der gesamten Arbeitszeit Maske tragen müssen? Wie solidarisch mit unserem Tourismus, von dem viele bei uns leben und der einen nächsten Lockdown wohl schwer überleben würde? Wie solidarisch mit Kultur- und Sportveranstaltern, die bei einer drohenden vierten Welle wieder stark eingeschränkt würden?

„Eine Spaltung der Gesellschaft bekommen wir auch sonst: In Geimpfte/Genesene und Erkrankte.“

Und da bitte ich um Verständnis, dass den Geimpften langsam die Geduld ausgeht. „Es wird kein Weg daran vorbeiführen, dass nur mehr Geimpfte reinkönnen“, meinte der Wiener Gesundheitsstadtrat Hacker. Immer mehr Politikerinnen und Politiker pflichten ihm bei, dass nur mehr vollständig Geimpfte Zutritt zur Nachtgastronomie und dem gesamten Kultur- und Freizeitbereich haben. Dafür brauchen wir eine bundeseinheitliche Regelung. Doch für Gesundheitsminister Mückstein „kommt die Diskussion zu früh“. Eine Unterscheidung bei den Regeln für Geimpfte und Ungeimpfte könne zu einer Spaltung der Gesellschaft führen, sagte er in der ZiB 2 am Sonntag. Diese Spaltung haben wir doch längst, nämlich in Solidarische und Unsolidarische. In Menschen, die als Geimpfte zum Aufbau der Herdenimmunität beitragen, und solchen, die nur an sich selbst denken und darauf warten, dass andere die Herdenimmunität herstellen. Eine Spaltung der Gesellschaft bekommen wir auch sonst: In Geimpfte/Genesene und Erkrankte. Denn darin sind sich die führenden Virologen einig: Wer nicht geimpft ist, steckt sich an. Früher oder später.

Doch Mückstein ist sehr flexibel, für einen Neo-Politiker bemerkenswert. Zwei Tage später konnte er sich die 1-G-Regel (Zutritt nur für Geimpfte) bei Veranstaltungen doch vorstellen, um das dann wieder abzuschwächen („kommt erst in Frage, wenn das pandemische Geschehen eine gewisse Dramatik zeigt“). Ich will nicht dramatisieren, aber haben wir diese Dramatik nicht schon, wenn Gerald Fleisch von der Krankenhaus-Betriebsgesellschaft berichtet, dass schon jetzt deutlich mehr CoV-Patienten im Spital liegen als zur selben Zeit vor einem Jahr? Die allermeisten nicht geimpft. In Wien ist die Sache genauso. Dass sich Vorarlbergs Schilehrer als einzige (!) in Österreich gegen eine verpflichtende Impfung wehren, könnte sich noch als Schuss ins eigene Knie herausstellen. Wenn die Gäste doch lieber auf Nummer Sicher gehen, also zu geimpften Schilehrern anderswo. Gläubige ungeimpfte Katholiken haben jetzt einen guten Grund, ihre Haltung zu überdenken. Papst Franziskus hat gerade gemeint, sich impfen zu lassen sei ein „Akt der Liebe, für sich, für seine Familie und Freunde sowie für alle Völker“. Gilt eigentlich für alle, mit und ohne Konfession.

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.