Kathrin Stainer-Hämmerle

Kommentar

Kathrin Stainer-Hämmerle

Darwin oder Kant

Politik / 14.09.2021 • 16:15 Uhr

Wer für Demokratie kämpft, will vor allem eines: Freiheit. Es galt und gilt, die eigenen Rechte vor einem absoluten Herrscher oder tyrannischen Regime zu schützen. Wer Glück hat, lebt in einem Land, in dem dieser Kampf bereits von den Vorfahren erfolgreich geführt wurde. Und in dem die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und geopolitischen Umstände diese Errungenschaften nicht gefährden. Österreich ist jedenfalls ein solcher Ort, trotz der Pandemie und manchem Verdruss über chaotische Vorschriften und politische Entscheidungen.

Doch Freiheit bedeutet nicht schrankenloser Individualismus. Sie endet dort, wo die Freiheit der anderen beginnt, schrieb Immanuel Kant bereits im 18. Jahrhundert. Beim Vergleich der Impfquoten scheint diese Erkenntnis heute noch die Staaten zu scheiden. So sehen die zu dreiviertel immunisierten Spanier im Impfen eine Bürgerpflicht und nicht nur einen Akt privater Gesundheitsvorsorge. Anders als persönliche Risiken, wie Schnitzelessen oder Rauchen in Privaträumen, ist Covid-19 eine hochansteckende Krankheit. Darüber hinaus erhöhen Nichtgeimpfte das Risiko auf belegte Intensivbetten nach einem Unfall oder volkswirtschaftliche Einbußen durch einen Lockdown. Ganz zu schweigen von Einschränkungen der Bewegungsfreiheit: kein Gasthaus, kein Konzert, kein Kino oder Theater, keine Sportveranstaltungen.

Ebenso ist darauf zu achten, wer über wessen Freiheit entscheidet. 310 Kindern allein in Vorarlberg bleibt heuer der Schulunterricht verwehrt, weil sie von ihren Eltern abgemeldet wurden. Das heißt für sie Freiheit vor Coronatests, aber auch: keine Freunde treffen, keine Abenteuer auf dem Schulweg und wenig Chance auf ein Weltbild, das sich von jenem der Eltern unterscheidet. Die heikle Frage lautet: Wann muss der Staat die Freiheit von Kindern gegen den Willen oder gar die politische Einstellung der Eltern schützen? Haben die Eltern ein stärkeres Recht auf Freiheit als ihre Kinder?

All jene, die in diesen Tagen so vehement ihre Freiheit verteidigen, sollten daran denken: Wann beeinträchtigt die eigene Freiheit das Recht Anderer auf Autonomie und freie Entscheidungen? Und werden mit dem schön klingenden Wort Freiheit nicht gerne Machtverhältnisse und Privilegien gerechtfertigt? Oder einfach nur das Recht der Stärkeren? Damit wären wir bei Charles Darwin oder vielmehr bei Herbert Spencer, der als Vordenker des Sozialdarwinismus gilt. Doch Demokratie bedeutet eben nicht nur Freiheit, sondern auch Zusammenhalt und Schutz für jene, die ihn benötigen. Für diese Garantie steht heute ein Staat und in diesem Bewusstsein sollten wir alle handeln.