Ab jetzt: alles Verhandlungssache!
Merkels Macht ist verflogen. Es bleibt ein unübersichtliches Feld, alles andere als klare Verhältnisse. Die Nachfolge ist jedenfalls gescheitert, und auch jene, die es nicht glauben wollten, haben es jetzt schriftlich: Armin Laschet war der falsche Kandidat. Die treuesten Konservativen haben ihr Kreuzchen tapfer bei der CDU gemacht, obwohl Laschet Spitzenkandidat war. Die Union ist am historischen Tiefpunkt angekommen. Sie muss sich diesen Vergleich gefallen lassen: bei der Bundestagswahl 2017 noch bei 32,9 Prozent, an Merkels Höhepunkt 2013 über 41 Prozent. Jetzt vermutlich unter 25 Prozent, wohl hinter der SPD. Das ist nicht nur bitter, das ist verheerend.
Wahlgewinner Olaf Scholz hat die Sozialdemokratie aus einem 15-Prozent-Tief nüchtern-unaufgeregt in einem großartig geführten Wahlkampf an die Spitze geführt, die SPD vor die Union gesetzt. Er muss nun langfristig seine Strahlkraft auf die SPD übertragen und kurzfristig eine Einigung mit Grünen und FDP herstellen.
Die Grünen haben den Pfad, den Olaf Scholz mit der SPD geschafft hat, in umgekehrter Richtung abgeschritten. Anfangs die Erwartungshaltung mit Meinungsumfragen hochgejazzt. Vom Kanzleranspruch und gefühlten 25 Prozent kommend, hat Annalena Baerbock den Grünen zwar den größten Zuwachs in der Parteigeschichte beschert – die Grünen sind aber nicht dort, wo sie eigentlich hin wollten: ins Kanzleramt.
Alles, was ab jetzt in Berlin passiert, ist reine Verhandlungssache. Für fast alle, die nun eine Rolle spielen, ist viel drin: für die SPD – und für die potenziellen Kanzlermacher von Grünen und FDP allemal. Äußerst zähe Verhandlungen drohen, zumal sich auch die CDU nicht mit der Oppositionsrolle zufriedengeben wird. Es fehlt der CDU nach der Ära Merkel an Esprit, Innovationen, neuen Ideen. Die Konservativen werden aber eine Gegen-Koalition zur SPD aufstellen wollen.
Deutschland hat auch bei der Abwicklung der Wahl am Sonntag demonstriert, dass längst nicht mehr alles funktioniert in dem Land. Das Land des Funklochs braucht einen Neustart in Sachen Digitalisierung. Die Auto-Nation spielt noch nicht die Hauptrolle beim Umbau der Mobilität. Zunächst jedoch droht ein Herbst des Stillstands. Die Politik muss sich mit sich selbst beschäftigten.
Ob Laschet überhaupt weiter eine Rolle spielen wird? Die Kräfte in der CDU werden in den kommenden Stunden und Tagen wirken, und insbesondere CSU-Chef Markus Söder hat ein gewichtiges Wort mitzureden, wie lange Laschet bleiben darf. In der Union wird nach diesem Desaster kein Stein auf dem anderen bleiben können.
SPD und Grüne konnten die größten Zugewinne verbuchen. An ihnen liegt es, mit den Liberalen einen Weg zu finden, um Deutschland nach vorne zu bringen – in Sachen Klimaschutz, beim Umbau der Mobilität und der Digitalisierung. Europa braucht ein erfolgreich-zukunftssicheres Deutschland. Der Erfolg von Europa ist mit dem Erfolg der Bundesrepublik eng verbunden.
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