Kleiner Abgang, großer Zapfenstreich
Wenn Sebastian Kurz zu seinen Glanzzeiten in Berlin zu Besuch war, dann traf er sich – so er einen Termin bekam – nicht nur mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern auch stets mit Konservativen, denen er eine künftige Karriere oder gar eine Merkel-Nachfolge zutraute, darunter etwa Jens Spahn. Der Opportunismus flog stets mit. Das Verhältnis mit Merkel war kühl, sie bot ihm zwar irgendwann das “Du” an, wie er zuhause in Wien möglichst beiläufig, aber nicht ohne Stolz berichtete, doch beide wussten, dass Sebastian Kurz und Angela Merkel politisch und auch sonst so ziemlich das Gegenteil voneinander verkörperten.
Merkel war bis zu ihrem letzten Arbeitstag in Krisensitzungen, bewegte weiterhin trotz deutlich eingeschränkter Machtfülle.
Kurz hätte alle Macht gehabt, Österreich neu zu erfinden. Wohin er politisch jedoch wollte, erschloss sich bis zuletzt nicht. So wird die Verpackung, die Inszenierung bleiben. Und die von Gerichten zu klärende Frage, wie echt das alles überhaupt war.
Angela Merkel betonte in ihrer Abschiedsrede die große Bedeutung des Vertrauens in die Politik, in die Wissenschaft.
Kurz hat das gesamte Vertrauen verspielt.
Nach 16 Jahren als Fels in der europäischen Brandung wurde Merkel mit höchsten militärischen Ehren und größtem Respekt verabschiedet.
In Österreich wurde währenddessen zurückgetreten. Statt großem Zapfenstreich galt es, unehrenhaften Entlassungen zuvorzukommen. Kurz tat das, was er schon vor eineinhalb Monaten hätte tun müssen. Schallenberg dokumentierte mit seinem hastigen Amt-zur-Verfügung-Stellen, dass er wohl tatsächlich nicht mehr als Sebastian Kurz’ Prokurist war. Nach 52 Tagen legte er das verantwortungsvolle Amt zurück und beschert Österreich so den dritten Bundeskanzler innert weniger Wochen. Auch weil die bisherige ÖVP-Ministerriege sternförmig um den Heilsbringer aufgebaut war und ihr Schicksal allein von Kurz abhing, dürften die Domino-Rücktritte von Schallenberg und Blümel nur der Anfang gewesen sein. Politische Stabilität ist anders.
Nicht nur europäische Konservative hofierten den jungen österreichischen Kanzler, auch in Übersee war der ‘right wing politician’ gern gesehener Gast. Er stand während seiner Amtszeit in Kontakt mit globalen Tech-Größen wie Ex-Google-Chef Eric Schmidt. Facebook-Gründer Marc Zuckerberg schickte Kurz am Tag seines Seitwärtstretens eine bedauernde SMS. Es würde überraschen, würde Kurz nicht alsbald in den USA als politischer Berater auftauchen.
Zurück ins europäische Machtvakuum. Angela Merkel wird fehlen. Als Kurz noch politisch unbeschädigt war, da meinten deutsche Konservative hin und wieder neidvoll, so einen wie Kurz bräuchte man in Deutschland.
Jetzt, wo sich der Kurz’sche Sternenstaub verzogen hat, muss man sagen: So eine wie Angela Merkel, so eine bräuchten wir nun in Österreich.
Gerold Riedmann
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