EU-Kommission geht gegen Polen vor

Vertragsverletzungsverfahren wegen umstrittener Urteile.
brüssel Im Streit um den polnischen Rechtsstaat hat die EU-Kommission ein heikles Verfahren gegen Warschau eingeleitet. Diesmal geht es um zwei umstrittene Urteile des polnischen Verfassungsgerichts, die den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht in Frage stellen. Am Ende des Vertragsverletzungsverfahrens könnten eine weitere Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und Geldstrafen stehen.
Die nationalkonservative Regierung und die EU-Kommission streiten seit Jahren über die Justizreformen des Landes. Die Brüsseler Behörde hat mehrere Verfahren eingeleitet und Klagen beim EuGH eingereicht. Kommissionsvize Vera Jourova äußerte den Wunsch, dass die polnische Regierung ihren Ansatz ernsthaft überdenken möge. Erste Reaktionen lassen wenig Bereitschaft dazu erkennen: „Die Europäische Kommission missversteht die Trennung zwischen den Zuständigkeiten der Staaten und den EU-Strukturen“, sagte Regierungschef Mateusz Morawiecki. Vizejustizminister Sebastian Kaleta sprach von einem „Angriff auf die polnische Verfassung und unsere Souveränität“.
Der Schritt vom Mittwoch ist vor allem deshalb brisant, weil der Europäische Gerichtshof am Ende womöglich in eigener Sache urteilen müsste – darüber, ob EuGH-Urteile Vorrang vor denen des polnischen Verfassungsgerichts haben. Hinzu kommt, dass nationale Gerichte eigentlich ohne den Einfluss einer Regierung Entscheidungen treffen sollten. Allerdings betrachtet die EU-Kommission das polnische Verfassungsgericht nicht mehr als Gericht. Sie hat ernsthafte Zweifel an dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.
Hintergrund des neuen Verfahrens ist unter anderem ein Urteil des Verfassungsgerichts im Oktober, wonach Teile des EU-Rechts nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Bereits im Juli hatte das Gericht entschieden, dass die Anwendung einstweiliger EuGH-Verfügungen, die sich auf das Gerichtssystem des Landes beziehen, nicht mit Polens Verfassung vereinbar seien. Einen Tag nach dem Oktober-Urteil machte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutlich: „Das EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich verfassungsrechtlicher Bestimmungen. Diesem Grundsatz haben sich alle EU-Mitgliedstaaten als Mitglieder der Europäischen Union verschrieben.“ Die Kommission befand nun, dass die Urteile unter anderem gegen den Vorrang von EU-Recht verstießen. Zudem verletzten sie die bindende Wirkung von EuGH-Urteilen und sorgten dafür, dass das Recht auf effektiven Rechtsschutz vor polnischen Gerichten eingeschränkt werde.