Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Die schweigende Mehrheit erwacht

Politik / 27.12.2021 • 04:30 Uhr

„Zu oft hören wir auf die lauten Stimmen und zu wenig auf die leisen.“ Den Satz habe ich auf Twitter gefunden. Seit wenigen Tagen gilt er nicht mehr. Spät, aber doch erwacht die bisher schweigende Mehrheit. In Wien haben über 30.000 Menschen ein Lichtermeer gebildet, um der Corona-Opfer zu gedenken und ein Zeichen der Solidarität an das Krankenhauspersonal auszusenden. Die Teilnehmer-Zahl wird von der Polizei laufend nach oben korrigiert. Eine Lichterkette auch vergangenen Sonntag in Bregenz, um ein Zeichen für ein friedvolles Miteinander zu setzen. Dazu Lichterketten an anderen Orten Vorarlbergs. Die Initiative „Zeichen setzen“ will dem Spitalspersonal den Rücken stärken. „Eine kleine Minderheit nimmt für sich die Deutungshoheit in Anspruch“, resümiert in der „NEUEN am Sonntag“ Gerald Fleisch von der Krankenhausbetriebsgesellschaft. Und freut sich über die Unterstützung. Der Zuspruch relativiere die Kritik einer irregeleiteten Gruppe von Menschen: „Wenn man Covid etwas Positives abgewinnen will, dann ist es der unglaubliche Rückhalt in der Bevölkerung.“

„Durch eine aktuelle Studie der Uni Wien wissen wir jetzt, dass diese Gruppe wenig Rückhalt in der Bevölkerung hat.“

Die Gegensätze sind bemerkenswert. Auf der einen Seite die Organisatoren des Lichtermeers, die „vom Gegeneinander ins Miteinander“ kommen wollen. Auf der anderen Seite jene, die nach „Freiheit“ rufen, aber andere in ihrer Freiheit einschränken, Nazi-Symbole und Judensterne tragen, gegenüber Argumenten unzugänglich sind, Chaos herbeiführen, Gewalt anwenden und die Auseinandersetzung mit der Polizei bewusst suchen. Durch eine aktuelle Studie der Uni Wien wissen wir jetzt, dass diese Gruppe wenig Rückhalt in der Bevölkerung hat. Demnach unterstützen ganze 17 Prozent die Proteste gegen die Maßnahmen. Trotz Lockdowns, Zugangsbeschränkungen und der angekündigten Impfpflicht. Die meisten Demo-Unterstützer sind unter jenen, die bei der nächsten Wahl der impfkritischen Partei MFG die Stimme geben wollen (82 Prozent) oder der FPÖ (50 Prozent). Das Profil der Demo-Unterstützer laut Studie: „Tendenziell rechts, wissenschaftsfeindlich und esoterisch. An die Stelle von Wissenschaft tritt bei dieser Gruppe der Glaube an Spiritualität und Homoöpathie.“

Spät, aber doch erwacht auch die Industrie. Die Wirtschaftskammer wirbt mit einer persönlich von führenden Mitgliedern getragenen Kampagne, darunter der freiheitliche Vizepräsident Eduard Fischer. Das wird der FPÖ-Chef und oberste Wurmologe nicht gern gesehen haben. Die Industrie agiert in Europa sonst eher unpolitisch. Deshalb ist eine Kampagne der deutschen Industrie bemerkenswert. 150 Firmen werben mit ihren abgeänderten Slogans. Lidl mit „Impfen lohnt sich“, BMW hat seinen Slogan zu „Freude am Impfen“ geändert. Die Welle ist nach Österreich geschwappt. Die Lebensmittelkette Hofer wirbt mit „Impfen. Da bin ich mir sicher“. „Darf‘s ein Boosterl mehr sein“ fragt laut SN die Handelskette SPAR. Beim Technologie-Konzern FACC wurde aus „Beyond Horizons“ ein „Impf to new Horizons“, die Linz-Textil wirbt mit „Wir lieben alle Stoffe. Auch Impfstoffe“. Der Pannen-Notruf des ARBÖ heißt jetzt „123-fach geimpft“, Kranhersteller Palfinger wird zum „Impfinger“. Schöner Gegensatz zu „Ungeimpfte willkommen“. So. Und dennoch haben wir zu wenig Geimpfte. Silvester fällt flach. Der Tourismus – von dem viele im Land leben, werte Ungeimpfte! – hat gewaltige Probleme. Die Zeit zwischen Weihnachten und Silvester ist traditioneller Anlass zum Nachdenken. Vielleicht darüber, dass es für den dritten Stich an der Zeit wäre, für einen Test vor der Feier mit Familie oder Freunden. Vielleicht sogar zum Überdenken einer schon lange unhaltbar gewordenen Position für jene ohne den ersten Stich?

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.