Der neue Stalin

Politik / 16.03.2022 • 22:24 Uhr

Historische Vergleiche hinken. Beispielsweise sollte man Formulierungen wie „ein zweiter Hitler“ besser nicht verwenden. Wladimir Putin als Stalin des 21. Jahrhunderts? Putin träumte davon, das nach der Implosion der Sowjetunion auf Russland zusammengeschrumpfte Imperium mit allen Mitteln wieder herzustellen – doch was er bisher erreicht hat ist bloß das Eine: Das Terrorregime Josef Stalins zu imitieren. Putin versucht jetzt als erster seit Adolf Hitler ein europäisches Land mit geballter militärischer Macht und hemmungsloser Brutalität zu überrollen – und zugleich dominiert er als skrupelloser Diktator sein eigenes Land mit eiserner Faust. Ein zweiter Stalin, der seine unbegrenzte Macht mit systematischen Lügen und hemmungsloser Gewalt absichert. Doch im Gegensatz zu Stalin, der die rückständige Agrarnation Russland in eine Industrienation, dann in eine Nuklearmacht katapultiert und entscheidend zum Sieg über Hitler beigetragen hatte, ruiniert Putin die unter ihm zur Kleptokratie der Superreichen und der Superarmen verkommene Nation. Immer mehr Russen wollen heute nur eines: Diesem maroden Russland Putins so rasch als möglich den Rücken kehren.

Der Despot mit dem prägnanten Schnurrbart wurde zum gütigen „Väterchen Stalin“ hochstilisiert. Dieses irreführende Prädikat blieb am georgischen Gewaltherrscher haften, obwohl er Abermillionen ermorden, foltern und in sibirischen Lagern dahinsiechen ließ. Niemand käme auf die Idee, den eiskalten Wladimir Putin als „Väterchen“ zu bezeichnen. Anatolij Sobtschak, früherer Oberbürgermeister von Putins Geburtsstadt Leningrad/Sankt Petersburg, charakterisiert seinen einstigen Schützling Putin als „knochenhart“ – „setzt Entscheidungen bis zum Ende durch“. Dessen Maxime: „Zeige nie Schwäche. Denn die Schwachen sind immer die Verlierer“. Seine Kindheit war wie jene Stalins hart; früh lernte er, sich auf der Straße durchzusetzen. Mit Stalin verbinden ihn zwei Dinge: Machttrieb und Paranoia. Zum Schutz seiner persönlichen Sicherheit ist kein Aufwand zu groß.

Der Westen hat in seinem Wunschdenken Putin jahrelang unterschätzt – und ihn bei seinen Angriffskriegen mit verschränkten Armen gewähren lassen. Als Putin am 25. September 2001 vor dem Deutschen Bundestag Schalmeienklänge zu „Ideen der Demokratie und der Freiheit“ verbreitete, wurde seine Rede 16mal von Applaus unterbrochen, mehrmals registrierte das Protokoll „Heiterkeit im Saal“; zum Abschluss minutenlang „standing ovations“. Der damalige österreichischen Bundespräsident Heinz Fischer streichelt Putin 2014 nach dessen Annexion der Krim zärtlich über die Schulter und Ex-Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) wirft sich ihm im August 2018 in voller Hochzeitsmontur zu Füssen (was dann auch mit einem Verwaltungsratssitz im staatlichen Mineralölkonzerns Rosneft honoriert wurde). Ex-Kanzler Schüssel (ÖVP) lässt sich vom Putin-Regime ebenso einspannen wie Ex-Kanzler Gusenbauer (SPÖ). Beim Tanz ums Goldene Kalb spielte weder Parteizugehörigkeit noch Gesinnung eine Rolle.

Charles E.
Ritterband

charles.ritterband@vn.at

Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).