Abschied von der großen Illusion

Politik / 30.03.2022 • 22:36 Uhr

Der griffige, aber irreführende Titel war rasch in aller Munde, obwohl nur wenige seinen Artikel im „National Interest“ (1989) und danach sein Buch (1992) wirklich gelesen hatten: „Das Ende der Geschichte“. Francis Fukuyama, der an der Universität Stanford lehrt, stützte seine aufsehenerregende These auf Hegels Geschichtsphilosophie mit ihrer Utopie von der Aufhebung der weltpolitischen Widersprüche in einer letzten Synthese. Nach dem Fall der Berliner Mauer der Implosion des Sowjet-Imperiums und damit dem Ende des Kalten Krieges glaubten tatsächlich viele, den Anbruch eines neuen, besseren Zeitalters zu erkennen – einer Welt des wachsenden Wohlstands, der Freiheit und Demokratie.

Das mag anfangs der 90er Jahre tatsächlich der Fall gewesen sein – verkehrte sich jedoch rasch ins Gegenteil: Statt einem Happy End hat uns die Geschichte weltweit einen Rückfall in Diktatur und Unterdrückung beschert. Der Anteil der Menschen, die das Glück haben, in Demokratien zu leben, fiel bald unter 50 Prozent – inzwischen sind es nur noch 20 Prozent. Hunderte von Millionen haben die für uns so selbstverständliche Möglichkeit eingebüßt, ihre Meinung frei zu äußern und ihre politischen Repräsentanten in unverfälschten Wahlen zu küren. Die Liste der Gewaltherrscher, die ihre Macht mit undemokratischen Methoden oder brutalem Terror festigen, wird immer länger: Assad in Syrien, Lukaschenko in Weißrussland, die Militärjunta in Burma, Xi in China, Putin in Russland. Selbst innerhalb der EU pflegen demokratisch gewählte Regierungschefs wie Victor Orban mit demokratischen Prinzipien fahrlässigen Umgang. Das trügerische Bild vom „Ende der Geschichte“ hat die westlichen Eliten selbstzufrieden gemacht – und blind für die Gefahren, die der Demokratie drohten. Die USA haben als Weltpolizist abgedankt. Putin wurde hofiert. Als er dann den größten europäischen Krieg seit 1945 vom Zaun brach, herrschte allenthalben Bestürzung und Überraschung.

Hätte man nur den russischen Schriftsteller Iwan Turgenjew (1818-1883) gelesen, der eine Romanfigur in „Aufzeichnungen eines Jägers“ mit für Putin maßgeschneiderte Worten schilderte: „Er weiß, dass er lügt, und glaubt selbst an seine Lügen.“ Für Putin ist offenbar sein Name Programm: „Wladimir“ bedeutet „Beherrscher des Universums“, „Mir“ aber auch „Frieden“. Davon ist wenig zu sehen.

„Statt einem Happy End hat uns die Geschichte das Gegenteil beschert.“

Charles E.
Ritterband

charles.ritterband@vn.at

Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).