Kinder- und Jugendanwalt warnt vor Verbotsrhetorik und mangelnder Sozialhilfe

Politik / 05.05.2022 • 17:30 Uhr / 9 Minuten Lesezeit
Es brauche eine Grundsicherung für Kinder, fordert Michael Rauch. <span class="copyright">VN/RAUCH</span>
Es brauche eine Grundsicherung für Kinder, fordert Michael Rauch. VN/RAUCH

Michael Rauch sieht Nachholbedarf in der Armutsbekämpfung und äußert Wünsche an seinen Bruder, Minister Johannes Rauch.

Feldkirch In der Kinder- und Jugendanwaltschaft geht eine Ära zu Ende. Der bisherige Leiter Michael Rauch legt sein Amt nach 20 Jahren am 15. Mai nieder. Im VN-Abschiedsinterview berichtet er von Herausforderungen der Digitalisierung, der massiven Zunahme von Kinderpornografie und den durch die Pandemie verursachten Belastungen.

Im Bereich der Prävention gebe es viel zu tun. Außerdem müsse im Bereich der kinder- und jugendpsychiatrischen Angebote gehandelt werden. An seinen Bruder, Sozialminister Johannes Rauch, richtet der Kinder- und Jugendanwalt den Appell, eine Kindergrundsicherung einzuführen und mit einer weiteren Reform der Mindestsicherung Kinderarmut zu minimieren.

Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Youtube angezeigt.

Vor 20 Jahren sagten Sie bei Ihrem Antrittsinterview über ihren frühen Job im Ambulanten Familiendienst, man sollte gehen, wenn noch Wehmut da ist. Wie viel Wehmut ist jetzt da?

Es ist schon noch Wehmut da. Ich habe mich im vergangenen Jahr aber entschieden, dieses Amt nicht in Richtung Pension weiterzuführen, sondern dann zu gehen, wenn die Energie noch voll da ist.

Zum Teil leben wir heute in einer anderen Welt, als sie es vor 20 Jahren war. Was hat sich für die Kinder und Jugendlichen geändert?

Kinder brauchen ähnliche Dinge, dass sie gut aufwachsen können, wie vor 20 Jahren: die Beziehungen zu den Eltern, zu Freunden, die Integration in Vereinen. Die Medialisierung und Digitalisierung hat aber den Bezug zu manchen Dingen extrem verändert. Wir haben die Situation, dass Kinder im Volksschulalter fast zu 100 Prozent ein Smartphone mit Internetzugang haben und beinahe eine unbeschränkte Möglichkeit auf pornografische, rassistische, gewaltverherrlichende Inhalte besteht.

Abschiedsinterview: Michael Rauch gibt sein Amt als Kinder- und Jugendanwalt nach 20 Jahren ab. <span class="copyright">VN/RAUCH</span>
Abschiedsinterview: Michael Rauch gibt sein Amt als Kinder- und Jugendanwalt nach 20 Jahren ab. VN/RAUCH

Gibt es beim Kinder- und Jugendschutz hier noch Nachholbedarf?

Ich glaube schon, dass es eine zusätzliche Bewusstseinsbildung bei den Eltern braucht. Manchen Eltern ist zu wenig bewusst, wie niedrig die Hürden sind, Zugriff zu gewissen Inhalten zu erhalten. Und natürlich hat die Pandemie in den letzten Jahren manche Fortschritte geschmälert. Mit der Belastung, die in der Pandemie entstanden ist, ist die häusliche Gewalt wieder stark angestiegen. Und das Thema der Kinderpornografie ist in den vergangen zwei Jahren explodiert.

Sie sagten schon vor zehn Jahren, dass der Blick der Kinder und Jugendlichen auf gewisse Maßnahmen fehlt. Mit der Pandemie haben wir gesehen, dass ihre Bedürfnisse wieder nicht ernst genommen wurden. Ist das ein Bohren in zu harten Brettern?

Man muss auch die Fortschritte der vergangenen 20 Jahre sehen. Einer der wesentlichsten war die Verabschiedung des Spiel- und Freiraumkonzepts 2009, wo verpflichtend die Einbeziehung von Kinder und Jugendlichen zu berücksichtigen ist. In der Pandemie waren Beteiligungsmöglichkeiten aber kaum vorhanden, auch nicht für Erwachsene. Kinder und Jugendlichen waren auch nicht richtig adressiert. Man hat mit ihnen nicht altersentsprechend kommuniziert, sei es beim Impfen, sei es bei der Maßnahmenerklärung. Ganz schlecht waren auch die Sanktionsformen, die vollkommen überschießend waren.

Sind die Kinder und Jugendlichen ausreichend vorbereitet, sollte im Herbst eine nächste Welle kommen?

Wir hatten als Kinder- und Jugendanwaltschaft einen Termin bei Bundesminister Johannes Rauch. Ich habe dort ganz klar deponiert, dass Kinder und Jugendliche besser und direkter adressiert werden müssen – ohne die Verbotsrhetorik, wie sie zu Beginn der Pandemie üblich war, auch mit dem Satz „jeder wird jemanden kennen, der verstorben ist“. Was der ehemalige Kanzler da gemacht hat, ist eine No-Go-Kommunikation für Kinder und Jugendliche. Ich habe die Zusage vom Gesundheitsminister, dass das zusätzlich beachtet wird.

Er habe ein Forderungspaket an den Sozialminister übergeben, sagt der Kinder- und Jugendanwalt. <span class="copyright">VN/RAUCH</span>
Er habe ein Forderungspaket an den Sozialminister übergeben, sagt der Kinder- und Jugendanwalt. VN/RAUCH

Wo sehen Sie sonst noch Baustellen für den Sozial- und Gesundheitsminister?

Die größte Herausforderung liegt für den Bundesminister im Bereich Soziales, vor allem im Bereich der Kinderarmut. Wir haben ein Forderungspaket zur Mindestsicherung übergeben. Und wir haben noch einmal deponiert, dass es eine Kindergrundsicherung braucht. Ich hoffe, dass im Herbst mehr der Sozialminister mit Maßnahmen zur Armutsbekämpfung im Vordergrund steht und weniger der Gesundheitsminister gefragt ist.

Ein wenig wurde bei der Sozialhilfe nun geändert. Braucht es für die Kinder eine weitere Reform der Mindestsicherung?

Es sind mit der Minimalreform einige Giftzähne gezogen worden, das betrifft aber mehr Erwachsene oder Menschen, die nach der Flucht zu uns gekommen sind. Das Thema Kinder und Jugendliche ist aber nicht enthalten. Die negativen Auswirkungen der schwarz-blauen Reform sind nach wie vor sichtbar und müssen korrigiert werden. Ich weiß, es ist alles nicht im Regierungsprogramm, auch nicht die Kindergrundsicherung. Aber als das Regierungsprogramm gemacht wurde, gab es nicht die Herausforderungen, die wir jetzt haben, mit der steigenden Inflation und der Wirtschaftskrise, die vor der Tür steht.

Der Neubau der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird, anders als im Landtag beschlossen, doch nicht vorgezogen. Der Grund: Es würde zusätzlich zwölf Millionen Euro an Kosten verursachen. Wie sehr ist diese Sparsamkeit gerechtfertigt?

Bauetappe zwei und drei wurden bereits zusammengelegt. Wir haben nun versucht, noch ein weiteres Jahr zu gewinnen. Es ist im Moment aber weniger dringlich, darüber zu diskutieren, ob die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Rankweil nun 2027 oder 2028 fertiggestellt wird. Denn wir haben schon jetzt einen massiven Bedarf. Wir müssen daher darauf fokussieren, was wir jetzt an kompensatorischen Leistungen im tagesklinischen, ambulanten und stationären Bereich leisten können. Die Krankenhausbetriebsgesellschaft ist dazu in einem intensiven Prozess. Ergebnisse werden bis Herbst vorliegen.

Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie müsse jetzt reagiert werden, hält Rauch fest. <span class="copyright">VN/RAUCH</span>
Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie müsse jetzt reagiert werden, hält Rauch fest. VN/RAUCH

Es müssen also Übergangslösungen gefunden werden.

Mein Appell war, jetzt zu reagieren. Es geht um kurzfristige Maßnahmen und um Vorbereitungen für die mittel- und langfristigen Pandemiefolgen und darum, wie wir dem hohen stationären Druck gerecht werden können. Da braucht es zusätzliches Budget. Es hilft keinem Kind und keinem Jugendlichen, der jetzt einen Platz braucht und keinen bekommt, wenn wir über Fertigstellung 2027 oder 2028 diskutieren.

Wie viel konnten Sie in den vergangenen Jahren als Kinder- und Jugendanwalt bewegen?

Es gibt eine ganze Reihe von Verbesserungen im gesetzlichen Bereich: Vor 20 Jahren gab es keine Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche im Strafverfahren bei Sozial- und Gewaltdelikten. Es gab keinen Kinderbeistand bei eskalierten Scheidungsverfahren. Und die Beteiligungsmöglichkeiten waren nicht annähernd so weit ausgebaut. Es gab auch eine beispielgebende Qualitätsentwicklung in der stationären Kinder- und Jugendhilfe.

Rauch wird künftig in der Sozialabteilung des Amts der Vorarlberger Landesregierung arbeiten. <span class="copyright">VN/RAUCH</span>
Rauch wird künftig in der Sozialabteilung des Amts der Vorarlberger Landesregierung arbeiten. VN/RAUCH

Wo hätten Sie sich mehr gewünscht?

In Sachen Prävention gibt es einiges zu fordern. Ich sehe auch große Risiken, die durch die Pandemie verursacht wurden. Im Bereich der Kinderarmut ist die Situation nicht besser geworden. Für meinen Nachfolger Christian Netzer, der am 16. Mai die Funktion übernimmt, gibt es also genug zu tun.

Was werden Sie nach Mitte Mai machen?

Ich werde weitere vier Jahre in der Sozialabteilung des Amts der Vorarlberger Landesregierung arbeiten. Die konkreten Aufgaben werden wir im Juli festlegen, es wird weiterhin mit Kinder, Jugendlichen und Familien zu tun haben, möglicherweise mit dem Thema Prävention, wir stehen auch vor großen Herausforderungen mit der Flüchtlingswelle aus der Ukraine. Ich bleibe also mit den Themen der Kinder und Jugendlichen verbunden. Das war mir immer ein Herzensanliegen und erleichtert ein Stück weit den Abschied aus dieser Funktion.