Warum im Ukraine-Krieg noch kein Ende in Sicht ist

100 Tage Krieg gegen die Ukraine: Experte glaubt nicht an rasche Verhandlungslösung.
kiew Seit 24. Februar tobt in der Ukraine Krieg. Russland hat das Nachbarland vor 100 Tagen angegriffen, Millionen sind auf der Flucht. Derzeit steht insbesondere die umkämpfte Großstadt Sjewjerodonezk im Osten des Landes im Fokus. Dass der Krieg so bald zu Ende sein könnte, bezweifelt der Politologe und Russland-Experte Gerhard Mangott im VN-Gespräch: „Für eine Verhandlungslösung sehe ich momentan keinen Raum.“
Traurige Bilanz
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zog zuletzt bei einigen Auftritten Bilanz: Die russischen Truppen seien in 3620 Ortschaften der Ukraine einmarschiert. 1017 konnten wieder befreit werden. Bei weiteren 2603 komme es noch dazu, kündigte Selenskyj an. Bei den Kämpfen im Osten des Landes würden täglich bis zu 100 ukrainische Soldaten getötet. Zwölf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind seinen Angaben zufolge innerhalb des Landes auf der Flucht, fünf Millionen im Ausland. Den Freitag beging die Ukraine mit Durchhalteparolen. Regionalgouverneur Serhij Gajdaj bekräftigte: “Heute kämpfen und halten wir jeden Meter der Region Luhansk.“ Die dortige Großstadt Sjewjerodonez bleibt schwer umkämpft. Laut britischen Geheimdiensteinschätzungen kontrolliert Russland schon über 90 Prozent der Region.

Eroberung des Donbass
„Die russischen Streitkräfte rücken im Donbass langsam, aber stetig vorwärts“, sagt Politikwissenschaftler Mangott. Der Donbass umfasst die Regionen Donezk und Luhansk. Mit der vollständigen Eroberung von Sjewjerodonezk fiele die letzte große ukrainische Bastion in Luhansk. Dann werde die russische Seite versuchen, sich in der Provinz Donezk vorwärtszubewegen und auf größere Städte vorzurücken, erklärt Mangott. „Absicht ist, den gesamten Donbass zu erobern.“ Die ukrainischen Truppen würden immer weiter zurückgestoßen. Gleichzeitig ließen sich Offensivaktionen im Süden des Landes beobachten.

Westliche Staaten haben seit Beginn des Krieges mehrere Runden an Strafmaßnahmen gegen Russland verabschiedet. Dazu kommen Waffenlieferungen. Am Freitag beschlossen die EU-Länder ihr mittlerweile sechstes Sanktionspaket, das unter anderem ein weitgehendes Ölembargo vorsieht. Zudem wird die größte russische Bank, die Sberbank, aus dem Finanzkommunikationsnetzwerk Swift ausgeschlossen und mehrere russische Nachrichtensender in der EU verboten. Die Gespräche über das Paket zogen sich lange hin. Ungarn hatte eine Einigung blockiert und Ausnahmen beim Ölembargo durchgesetzt. Die Geschlossenheit scheint also zu bröckeln.
Differenzen beim Ziel
Der Politikwissenschaftler verweist auch auf Differenzen beim Kriegsziel unter westlichen Ländern. So seien etwa Großbritannien, die USA, Polen oder die baltischen Staaten der Meinung, dass die russischen Truppen ganz aus der Ukraine vertrieben werden sollen, auch von der Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde. Andere wie Frankreich, Deutschland und Italien sähen das anders. Demnach bestehe das maximale Kriegsziel darin, die Gebiete zurückzuerobern, welche die Ukraine seit Februar verloren habe. Der Experte bezeichnet das als große Kluft. In der Ukraine selbst komme es darauf an, welcher Politiker sich dazu äußere. Beide Ansichten würden vertreten.
Mangott glaubt nicht, dass der Krieg schnell enden wird. Er werde sich noch viele Monate hinziehen. Eine Lösung auf dem Verhandlungsweg zwischen der Ukraine und Russland sei derzeit unrealistisch. „Die Positionen sind so weit auseinander wie seit Kriegsbeginn.“