Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Und der Mut ist müde geworden

Politik / 07.06.2022 • 09:30 Uhr

100 Tage Krieg und noch kein Ende in Sicht. Am Freitag vergangener Woche war dieser nicht nur für die Menschen in der Ukraine traurige Moment, der deutlich macht, wie real imperialistische Machtansprüche und Kriegsgräuel auch im 21. Jahrhundert sind. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij, in der Rolle des Heerführers und obersten Motivators nach wie vor jeden Tag mit Appellen an die internationale Politik, Videos oder Postings auf seinen Social-Media-Kanälen aktiv, beschwört auch 100 Tage nach dem russischen Einmarsch in sein Land den Glauben an den Sieg. Vor seinem Amtssitz in Kiew beschreibt Selenskij den Krieg in 100 Wörtern, die seine Landsleute hätten lernen müssen: Raketentreffer, Ruinen, Deportation. Aber es gebe auch positive besetzte Begriffe: Rückkehr, Befreiung, Wiederaufbau.

Diese Hoffnung zu verbreiten, um die Menschen im Land zum Durchhalten zu bewegen, das ist seine Strategie. Und dennoch, überall außerhalb der Ukraine sprechen Experten und Expertinnen nun schon klar aus, was dieser Krieg auch ist: Ein Erschöpfungs- und Abnutzungskrieg. Manche erinnern dabei schon an den Ersten Weltkrieg mit seiner Zermürbung und der großen Devastierung, die er für die Beteiligten zur Folge hatte. Und gerade ein Abnutzungskrieg ist für die Ukraine schwer zu gewinnen, da die russischen Truppen den ukrainischen Streitkräften mit der täglichen planmäßigen Zerstörung ihrer militärischen Ressourcen an die Substanz gehen. Deswegen ruft Selenskij auch so laut nach schweren Waffen. Wie schnell und in welchem Umfang die versprochenen westlichen Waffenlieferungen an der Front im Osten der Ukraine ankommen, könnte also von großer Bedeutung sein.  

Das Interesse ermüdet

Auch wenn der ukrainische Präsident noch immer Hoffnung vermitteln will, die Realität erinnert derzeit doch bedrückend an „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, jener Erzählung von Rainer Maria Rilke, die das Leben mit dem Krieg in zeitloser Klarheit eindrücklich beschreibt. „Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß“ heißt es da, wenn Rilke von der Erschöpfung der Kämpfenden an der Front erzählt. Und auch das Interesse der Welt am Krieg ist schon etwas müde geworden, möchte man heute ergänzen.

Selenskij hat den Informationskrieg mit seiner Inszenierung als Anführer, seiner Standfestigkeit, seinen täglichen Videos und internationalen politischen Auftritten für sich entschieden (zumindest außerhalb Russlands), doch auch hier gilt wie immer im Aufmerksamkeitsgeschäft: Die Menschen auf den Social-Media-Plattformen beschäftigen sich jetzt nicht mehr den ganzen Tag mit der Ukraine, die internationale Politik hat neben dem Krieg auch andere Problemlagen zu bearbeiten. Bei allem Grauen setzt bei vielen wohl ein gewisser Gewöhnungseffekt ein: Was kann man denn auch persönlich gegen das Grauen dort tun?

Nach den ersten 100 Tagen des Krieges scheint nun die Bereitschaft, moderne schwere Waffen zu schicken, in maßgeblichen Ländern wie den USA oder Deutschland noch einmal zugenommen zu haben. Das Kriegsende bleibt ungewiss, nur eines ist sicher: Im Erschöpfungskrieg ist mit großen Verlusten zu rechnen.