Gerold Riedmann

Kommentar

Gerold Riedmann

Du Ländle meine teure Heimat

Politik / 12.06.2022 • 19:00 Uhr

Das Zusammenzucken an der Supermarktkassa, wenn der Wocheneinkauf sich dreistellig niederschlägt. Der Wunsch nach einem permanenten Minus-25-Prozent-Aufkleber für alles. Auch wenn sich bei jedem Pieps der Kassa der Betrag nach oben schraubt, ist dies die harmlose Variante. Denn Tausende Menschen können schlichtweg nicht mehr: Es geht sich finanziell nicht mehr aus. Die Weltpolitik wirkt sich im direkten Umfeld aus.

Der russische Diktator, der den ganzen Kontinent terrorisiert, Grenzen zu seinen Gunsten verrückt, Menschen tötet, Not und Hunger bringt. In der Ukraine jetzt, in weiterer Folge auch unmittelbar durch gekappte Weizenlieferungen auf dem afrikanischen Kontinent spürbar. Und auch in Europa wird die Armutsgrenze verschoben. Haushalte, die ohnehin schon wenig hatten, kommen nicht mehr ‘irgendwie’ durch. Das Frühwarnsystem: in Deutschland sind die gemeinnützigen Tafeln am Limit, in Vorarlberg wird Tischlein deck dich überrannt. Gründer Elmar Stüttler berichet den VN von doppelt so viel Nachfrage wie noch vor Kurzem. Tausend Familien in Vorarlberg werden pro Woche von Tischlein deck dich in privater Initiative versorgt. Die VN-Leserfamilie unterstützt über das Sozialprojekt “Ma hilft” Stüttlers Initiative seit Jahren, nun wurden von “Ma hilft” erneut 10.000 Euro zum Ankauf von dringend benötigten Grundnahrungsmitteln zur Verfügung gestellt.

Es trifft all jene, die schon bisher wenig Geld hatten, etwa die 6350 Menschen mit Mindestpension in Vorarlberg. Doch nicht nur sie: Vor allem trifft es Kinder aus armen Familien. Kinder sind es, die die wenigsten Fürsprecher im politischen Diskurs haben; deren Meinung, deren Bedürfnisse nicht von mächtigen Interessensverbänden und Lobbyorganisationen artikuliert werden.

Im Rücken haben die Vorarlbergerinnen und Vorarlberger die Preis-Rallye von Grund und Boden, die den früher gültigen Traum vom Eigenheim für die meisten jungen Menschen längst verunmöglicht hat. Schaffa, schaffa: ja. Hüsle baua: nein.

Und die Regierung? Ist, wie der gesamte Politbetrieb in Bund und Land auf weite Strecken abgelenkt von eigenen Problemen. Auch weil so viel schiefgelaufen ist, dass Aufarbeitung und Wundenlecken Jahre dauern wird. Die Regierung befindet sich, speziell was die ÖVP betrifft, noch immer in den Nachwehen von Ibiza, in der Sinnsuche nach Kurz. What’s next?

Die Menschen in diesem Land haben sich bei der Wahl erwartet, dass die politische Kraft für sie eingesetzt wird. Keine unverschämte Erwartung. Die Koalitionäre ringen um Ergebnisse, es geht nach wie vor um politische Deals. Wenn die akuten Probleme erdrückend werden, wird ein politisches Heftpflaster aufgeklebt. Finanzminister Magnus Brunner lässt ganz Österreich 33-stellige Stromzählernummern auf Gutscheine malen. Die Übung soll irgendwann 150 Euro bringen.

Nach zwei harten Jahren, in denen die Pandemie alles Vorankommen verunmöglicht hat, stehen wir mitten in der nächsten düsteren Ungewissheit, die Regierung vertröstet für größere Maßnahmen. Die Welt dreht sich zu schnell für unseren Politikbetrieb.

Sozialminister Johannes Rauch hat ein Antiteuerungspaket angekündigt, maßgeblich für den Herbst. Rauch kommt, möglichst im Paarlauf mit Finanzminister Brunner, eine Schlüsselrolle zu. Der Druck ist groß wie nie, gemeinsam zu agieren, groß genug zu denken – um die anrollende Katastrophe abzuwenden. Zeit bis Herbst ist nicht.

Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.