Kommando zum Rückzug

Politik / 24.06.2022 • 22:48 Uhr
Die ukrainischen Soldaten haben das Kommando zum Rückzug aus Sjewjerodonezk erhalten. RTS
Die ukrainischen Soldaten haben das Kommando zum Rückzug aus Sjewjerodonezk erhalten. RTS

Ukrainer geben nach wochenlangen Kämpfen die Großstadt Sjewjerodonezk auf.

Kiew, Moskau Am 24. Juni ist Russlands Überfall auf die Ukraine genau vier Monate her, und ausgerechnet an diesem Tag muss sich die ukrainische Armee im Osten des Landes in der Großstadt Sjewjerodonezk geschlagen geben. „Es ist jetzt eine Situation, in der es keinen Sinn macht, in zerschlagenen Stellungen auszuharren“, sagt Serhij Hajdaj, der Gouverneur des Gebiets Luhansk, dessen Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk ist. Die ukrainischen Verteidiger hätten das Kommando zum Rückzug erhalten. Die schwer umkämpfte und völlig zerstörte Industriestadt war bis zuletzt einer der wenigen Teile des Gebiets, in dem russische Soldaten und prorussische Separatisten noch nicht vollständig die Kontrolle übernommen haben. Sollte Luhansk komplett fallen, hätte der Kreml eines seiner wichtigsten Kriegsziele erreicht.

EU-Perspektive

Niederlage und Erfolg liegen eng beieinander an diesem Tag für die Ukraine. Erst wenige Stunden zuvor hatte die ehemalige Sowjetrepublik auf dem EU-Gipfel in Brüssel den Status eines Beitrittskandidaten zugesprochen bekommen. Im einheitlichen ukrainischen Nachrichtenprogramm wird der Rückzug aus Sjewjerodonezk dann erst einmal auch nur kurz erwähnt, deutlich mehr Raum nimmt am Freitag die frisch gewonnene EU-Perspektive ein. Am linken oberen Rand des Fernsehbildes ist nun ein EU-Symbol mit dem Schriftzug „Die Ukraine gehört zu Europa“ zu sehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj freut sich, dass sein Land nun kein „Puffer“ oder „Polster“ zwischen Ost und West mehr sei. Doch während man in der Hauptstadt Kiew Optimismus zur Schau trägt, wird die Lage im Osten immer ernster.

Schon seit Wochen konzentriert sich Russlands Armee auf Angriffe im Donbass. Vor knapp zwei Wochen hieß es von ukrainischer Seite, landesweit fielen täglich bis zu 100 Soldaten aus den eigenen Reihen. Kämpfe man nun in Sjewjerodonezk weiter, steige diese Zahl massiv, sagt der Gouverneur. Etwa 90 Prozent der Häuser seien zerstört. Von einst rund 100.000 Einwohnern sollen nur noch 7000 bis 8000 übrig sein. Auch in der Nachbarstadt Lyssytschansk auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses Siwerskyj Donez sieht es aus ukrainischer Sicht düster aus: Russische Truppen sind bereits an den Stadtrand vorgedrungen. Mehrere umliegende Siedlungen sind erobert.

Ungeachtet der Niederlage in Sjewjerodonezk ist ein groß angelegter Abzug aus umkämpften Gebieten nicht vorgesehen. Die Verluste seien hoch, gestand Gouverneur Hajdaj am Freitag ein. Aber einen Krieg ohne Verluste gebe es nicht.