Schweizer Neutralität auf der Waagschale

Politik / 09.02.2023 • 22:49 Uhr

Der Krieg um die Ukraine stellt die schweizerische Neutralität vor das schwerste Dilemma seit dem Zweiten Weltkrieg. Zwar bedeutete jeder internationale Konflikt der letzten Jahrzehnte eine Herausforderung für die Neutralitätspolitik der Schweiz: in welchen Fällen muss die Neutralität der Solidarität mit Opfern von Aggressionen untergeordnet werden? Bisher schien alles klar: Die schweizerische Bundesverfassung erteilt der Regierung klar den Auftrag, Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität des Landes zu gewährleisten. Die selbstgewählte, dauernde und bewaffnete Neutralität bedeutet, sich aus bewaffneten Konflikten zwischen Drittstaaten und militärischen Bündnissen herauszuhalten. Sie implementiert jedoch keine Gesinnungsneutralität. Was aber bedeutet dies für die Beteiligung an wirtschaftlichen Sanktionen gegen internationale Rechtsbrecher? Auch da gab es eine scheinbar simple Antwort: Die Schweiz darf sich nicht für „Umgehungsgeschäfte“ missbrauchen lassen, es gilt der „courant normal“, also Beibehaltung des bisherigen Handelsvolumens.

Doch der Ukraine-Krieg hat nun plötzlich – obwohl ungleich weniger existenzgefährdend wie die Umzingelung durch das aggressive Nazideutschland ab 1940 – die neutralitätspolitische Situation enorm kompliziert. Wenn die Schweiz anderen Nationen verbietet, in ihrem Land produzierte Rüstungsgüter an die Ukraine weiterzugeben, macht sie sich – so stellt NZZ fest – indirekt der Komplizenschaft mit dem Aggressor Russland schuldig: Darf die Schweiz tatenlos zusehen, wie der Diktator Putin die europäische Friedensordnung zertrümmert. Unter Berufung auf eine absolute Neutralitätsdefinition abseits zu stehen, würde angesichts der strategischen Bedrohung Westeuropas durch Putin letztlich darauf hinauslaufen, die eigenen Interessen zu ignorieren – auch die politischen: Zumal die Schweiz seit Anfang Jahr erstmals Mitglied des Uno-Sicherheitsrats ist.

Es geht hier nicht nur um das Neutralitätsprinzip: Die Schweiz ist eine Demokratie und diese beruht auf Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Menschenrechten und Pluralismus. All dies wird von Putin im eigenen Land mit Füssen getreten – und durch dessen Angriffskrieg in der Ukraine und deren Nachbarländern bedroht. Die Augen der Welt sind auf die Schweiz gerichtet – deren Neutralität steht auf dem Prüfstand. So macht die englische Tageszeitung „Daily Mail“ ihre heutige Ausgabe mit der Schlagzeilen auf: „Die Schweiz könnte ihre jahrhundertealte Neutralität aufgeben – nach Vorwürfen, dass diese auf eine Unterstützung Russlands hinausläuft“.

Charles E.
Ritterband

charles.ritterband@vn.at

Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).