Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Nur die Würde bleibt

Politik / 17.10.2023 • 06:29 Uhr

Was soll, was darf man als Medium zeigen? Wie viel Grauen ist nötig, um die Realität wiederzugeben, welcher Schrecken ist dem Publikum zumutbar? Wo endet die Information, wo beginnt die Sensationslust? Diese Fragen beschäftigen uns Medien immer wieder und gerade jetzt, wenn wir über den Terrorangriff auf Israel und alles, was er im Nahen Osten ausgelöst hat, berichten. Doch heute werden die Bilder des Grauens von Terror, Krieg und Leid nicht mehr in erster Linie von Medien-Profis – mehr oder weniger verantwortungsbewusst – veröffentlicht.
Eine immense Flut von schrecklichen Videos überschwemmt derzeit die Social-Media-Plattformen, die teilweise nicht mehr damit nachkommen, Gewaltinhalte zu löschen. Verbreitet werden die Bilder von Augenzeugen, verzweifelten Angehörigen, Presseleuten; aber besonders schlimme Darstellungen eben auch von Terroristen, die auf diese Weise noch mehr Angst in die Welt hinaustragen wollen, wie es jetzt die Hamas versucht. Psychologische Kriegsführung, für die leider vielen noch immer das Verständnis fehlt: Man muss auf Social Media keine expliziten Gewaltvideos teilen, um anderen klarzumachen, dass Terroristen menschenverachtend und böse handeln. Das haben die meisten schon kapiert, man hilft so nur ungewollt mit, den Terror zu verbreiten. Medienethisch ist die Veröffentlichung vieler dieser Bilder problematisch. Gerade wenn auf Social-Media-Plattformen kein Bild oder Video zu grauenhaft ist, um von irgendwem gepostet zu werden, sollten sich professionelle Medien davon klar abgrenzen. Der Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Intimsphäre von Opfern steht aus ethischer Perspektive über dem Nachrichtenwert – außer die Öffentlichkeit braucht ein Bild, um Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen. Die unverpixelten Bilder von Leichen aus dem Ukraine-Krieg braucht man nicht, um zu wissen, wie brutal sich der russische Angriff auch gegen die Zivilistinnen und Zivilisten richtet; die drastischen Bilder von gequälten Frauen und Kindern braucht man genauso wenig, um zu wissen, wie hasserfüllt die Hamas gegen Israels Menschen vorgeht.

„Wo endet die Information, wo beginnt die Sensationslust?“

„Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde“, so formulierte es der Aufklärer Immanuel Kant einst. Zwischen Tod, Vergewaltigung und Hass, wenn nichts mehr Menschliches ist, bleibt nur die Würde. Und diese Würde muss man den Menschen auch im Ausnahmezustand lassen, wenn sie Opfer werden, wenn sie erniedrigt werden, wenn sie ermordet werden. Die Würde des Menschen ist wichtiger als das eigene Bedürfnis, die erschütterndsten Bilder vom Leid anderer zu teilen, um Betroffenheit zu zeigen und zu erzeugen.

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.