Der Fluch der ikonischen Bilder
Aufklärung kann wehtun, befinden jetzt wieder zahlreiche herkömmliche Medien und zeigen unverpixelte oder explizite Bilder des Grauens aus dem Krieg, der durch den Terrorangriff der Hamas auf Israels Zivilbevölkerung ausgelöst wurde. Die Veröffentlichung eines Teils dieser Bilder bleibt medienethisch problematisch, gerade auch, weil auf den Social-Media-Plattformen ohnehin kein Video zu schrecklich ist, um von irgendwem gepostet zu werden. Professionelle Medien sollten sich davon abgrenzen und den Schutz der Persönlichkeitsrechte und Intimsphäre von Opfern beachten, der nicht mit dem Tod erlischt – die Würde des Menschen stirbt nicht.
„Die Welt blickte mit Grauen auf das tote Kind: Ein kleiner Bub, der wie schlafend am Strand liegt.“
Der einzige Grund, derartige Bilder – mit Einschränkungen – zu zeigen, wäre, dass die Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild braucht, um verborgene Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen. Denn sonst ginge es Medien vor allem um Aufmerksamkeit für ihre Produkte, manchen auch um Voyeurismus, weniger um Aufklärung. Und damit sind wir bei der immer wiederkehrenden Behauptung, „ikonische“ Bilder wie zum Beispiel jenes des toten Alan Kurdi würden realpolitisch etwas verändern.
Überschätzte Wirkmacht
Alan war drei Jahre alt, als er 2015 im Mittelmeer ertrank. Die Welt blickte mit Grauen auf das tote Kind: Ein kleiner Bub, der wie schlafend am Strand liegt. Das Bild des syrischen Kindes wurde weltweit veröffentlicht und gehörte zum Repertoire der meisten Medien, wenn sie den Schrecken der Flucht veranschaulichen wollten. Wenn man tote Menschen den Blicken aller preisgibt, kann man es gerne ikonisch nennen – doch Alans Foto zeigte 2015 nur, was davor schon klar und oft berichtet war: Menschen sterben auf dem Weg nach Europa.
Medien überschätzen ihre Wirkmacht, sagt Christian Schicha, einer der führenden Medienethiker im deutschsprachigen Raum und Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Der Fluch der ikonischen Bilder führt zu jener ikonischen Aufnahme der neunjährigen Phan Thi Kim Phúc zurück, die 1972 nackt aus einer Napalm-Wolke floh – ein Bild des Vietnamkriegs, das geblieben ist. Dieser Krieg spielte sich damals hinter der US-Militär-Propaganda in einem fernen Land ab, man wusste nicht viel über die Geschehnisse vor Ort. Und trotz einer aufklärerischen Wirkung sei die Behauptung, dass ein einzelnes Opferbild schneller Frieden bringen kann, ein frommer Wunsch, sagt Schicha jetzt in einem Interview mit dem Standard: „Ich halte die Vorstellung für fragwürdig, dass Bilder, auch wenn sie einen ikonischen Charakter haben, irgendetwas politisch zum Positiven verändern können.“
Und das zeigt sich auch im Fall der Flucht nach Europa. Menschen sterben dabei bis heute – Alan Kurdis Bild konnte daran nichts ändern.
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.
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