Nehammer im Interview: „Jeder, der nach Österreich kommt, entscheidet sich freiwillig für dieses Land“

Politik / 30.01.2024 • 19:30 Uhr
Österreichs Neutralität sei vor allem ein Wert außerhalb der EU, sagt Bundeskanzler Karl Nehammer im Interview unter anderem mit den Vorarlberger Nachrichten. <span class="copyright">APA/Georg Hochmuth</span>
Österreichs Neutralität sei vor allem ein Wert außerhalb der EU, sagt Bundeskanzler Karl Nehammer im Interview unter anderem mit den Vorarlberger Nachrichten. APA/Georg Hochmuth

Im Interview spricht Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer unter anderem über das Pensionssystem, die Wohnbauförderung und kündigt noch mehr neue Kassenstellen für Ärztinnen und Ärzte an.

Wien Mit der Präsentation seines „Österreichplans“ vergangenen Freitag hat Karl Nehammer den Wahlkampf eingeläutet. Auf 80 Seiten skizzierte der ÖVP-Bundesparteiobmann seine Vorstellungen, wie Österreich 2030 ausschauen soll. Und mit den Bundesländerzeitungen in Wien spricht der Bundeskanzler der Republik jetzt im Interview darüber.

Sie wurden vorige Woche in Wels von den Funktionären wie ein Sieger gefeiert. Die Umfragen schauen anders aus und sehen die ÖVP auf Platz drei: Ist das Zweckoptimismus oder Realitätsverweigerung?
Nehammer Ich nehme die dritte Variante: Es sind keine einfachen Zeiten und wir haben bisher alles getan, was möglich war, um diese schweren Zeiten besser bewältigbar zu machen. Die Funktionäre verlassen sich auf die Redlichkeit in meinem politischen Tun und unterstützen mich.

SPÖ und FPÖ werden heute einen Neuwahlantrag im Parlament einbringen. Wird die ÖVP zustimmen?
Nehammer Unser Plan bleibt, dass wir im September wählen, wenn die Legislaturperiode endet.

Gibt es Voraussetzungen, unter denen sich das ändern könnte?
Nehammer Zum Beispiel, wenn die Grünen aus der Koalition aussteigen.

Waren Sie enttäuscht, als Vorarlbergs Landeshauptmann Markus Wallner gesagt hat, er möchte nicht in zeitlicher Nähe zum Bund wählen?
Nehammer Jede Wahl hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Das Wahljahr 2024 ist sowieso ein besonderes: Zwei Landtagswahlen, zwei große Bundeswahlen mit Nationalratswahl und EU-Wahl, Arbeiterkammerwahlen, zwei Städte wählen. Da einen geeigneten Wahltermin zu finden, ist in diesem Jahr schwierig.

Kommen wir zu den Inhalten Ihres Österreichplans. Ein Schwerpunkt ist die Senkung der Steuern und Abgaben. Fiskalratschef Christoph Badelt sieht das skeptisch. Hat die Wirtschaftspartei ÖVP zu wenig gerechnet?
Nehammer Dass der Präsident des Fiskalrats skeptisch ist, das gehört zu seinem Beruf. Wir haben auch konkrete Maßnahmen, die das Budget entlasten, im Plan. Wir wollen die Wirtschaft stärken und jene, die fleißig sind, belohnen. Wir müssen uns als Standort auch im internationalen Wettbewerb behaupten. Das geht am besten durch eine Lohnnebenkostensenkung. Das ist immer ein komplexes Thema. Wir wollen erstmals auf alle Überstunden die Steuern abschaffen. Und wir wollen für die, die bereit sind Vollzeit zu arbeiten, 1000 Euro Vollzeitbonus auszahlen.

Karl Nehammer (l.) ist seit seiner Angelobung durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen (r.) am 6. Dezember 2021 Bundeskanzler dieser Republik. <span class="copyright">APA/Roland Schlager</span>
Karl Nehammer (l.) ist seit seiner Angelobung durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen (r.) am 6. Dezember 2021 Bundeskanzler dieser Republik. APA/Roland Schlager

Ist es nicht auch eine Leistung, neben einem Teilzeitjob die Kinder und die vielleicht schon alten Eltern zu betreuen? Müsste es hier nicht auch einen Bonus geben?
Nehammer Auch Teilzeitkräfte mit Betreuungspflichten leisten sehr viel! Sie profitieren davon, dass wir mit dem Eingangssteuersatz hinuntergehen. Es gibt hier ja keine schleichende Schlechterstellung. Es ist aber für alle anderen wichtig, Anreiz und Motivation zu schaffen, Vollzeit zu arbeiten und darüber hinaus Überstunden zu leisten. Wir können unseren solidarischen Wohlfahrtsstaat nur erhalten, wenn genug Menschen in das System einzahlen.

Es geht aber auch darum, wie teuer ein System ist. Das Pensionssystem ist einer der größten Ausgabenblöcke. Ihr Österreichplan ist in diesem Bereich sehr dürftig. Das Gros der Pensionsexperten empfiehlt eine Anpassung des Pensionsantrittsalters an die Lebenserwartung, das kommt bei Ihnen nicht vor.
Nehammer Nur das gesetzliche Pensionsantrittsalter anzuheben, ohne die 65 Jahre überhaupt erreicht zu haben, ist nicht wirkungsvoll. Wir haben derzeit ein faktisches Pensionsantrittsalter von 62 Jahren. Die große Pensionsreform von Wolfgang Schüssel beginnt erst jetzt voll zu wirken, weil der lebenslange Durchrechnungszeitraum greift. Das Pensionsantrittsalter von Frauen steigt nun Jahr für Jahr an und wir haben Maßnahmen gesetzt, dass sich länger arbeiten auszahlen soll. Jedes Jahr, in dem das faktische Pensionsalter sich dem gesetzlichen Pensionsalter annähert, bedeutet für das Budget eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro.

Es war über viele Jahre in der DNA der ÖVP, etwas beim Pensionsalter zu tun. Unter Sebastian Kurz hat das aufgehört. Traut sich die ÖVP, dieses unpopuläre Thema nicht mehr anzugreifen?
Nehammer Nein, es ist Pragmatismus. Wir haben gesehen, dass man mit Zielvorstellungen viel Wind erzeugen kann, aber keine Umsetzung zustande bringt. Vor zehn, 15 Jahren war es brutal schwierig für ältere Arbeitnehmer, noch Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Mittlerweile hat sich das komplett gedreht. Wir haben die Langzeitarbeitslosigkeit – darunter sind viele ältere Menschen – von 150.000 auf 75.000 halbiert. Man kann schon immer spektakuläre Forderungen haben, aber mein Politikverständnis ist das der Redlichkeit.

Ob die Forderung der zweckgewidmeten Wohnbauförderung von Bundeskanzler Nehammer (r.) bei den Landeshauptleuten, wie Vorarlbergs Markus Wallner (M.), gut ankommt, bleibt abzuwarten. <span class="copyright">Dietmar Stiplovsek</span>
Ob die Forderung der zweckgewidmeten Wohnbauförderung von Bundeskanzler Nehammer (r.) bei den Landeshauptleuten, wie Vorarlbergs Markus Wallner (M.), gut ankommt, bleibt abzuwarten. Dietmar Stiplovsek

Sie wollen die Wohnbauförderung wieder zweckwidmen. Haben Sie dafür die Rückendeckung der ÖVP-Landeshauptleute, die dem eher skeptisch gegenüberstehen?
Nehammer Diese Forderung ist ja nicht neu. Wir brauchen neben der Wohnbauförderung aber weitere Maßnahmen, weil die KIM-Verordnung der Finanzmarktaufsicht den privaten Eigentumsmarkt massiv eingeschränkt hat. Etwa, dass wir beim ersten Eigentumserwerb alle Steuern und Abgaben streichen und wieder staatliche Kredite zur Verfügung stellen. Und nachdem wir früher immer den Mietkauf propagiert haben, wollen wir wieder hin zur Kaufmiete, weil dadurch der Preis kalkulierbarer ist.

Laut Bauträgern führt das aber dazu, dass keine soziale Manövriermasse mehr da ist, wenn alle Wohnungen ins Eigentum übergehen.
Nehammer Wenn man als Bundeskanzler einen Vorschlag macht, sagt immer irgendwer, dass es nicht geht. Natürlich wird das das System herausfordern, aber aus meiner Sicht ist genug Substanz da. Es gibt ja trotzdem diesen Mietkauf, also es wird eine Kaufleistung erbracht.

Trotzdem ist es so, dass zum Beispiel in Vorarlberg Wohnbau ohne Erbe unmöglich und ein Wohnungskauf kaum finanzierbar ist. Soll man da in den Markt eingreifen?
Nehammer Wir versuchen eben, durch die staatlichen Kredite Finanzierungsformen zu schaffen, die es wieder ermöglichen, Eigentum aufzubauen. Und das ist keine Theorie oder Fantasie, das hat in den 80er-Jahren schon sehr gut funktioniert.

Was ist der Unterschied zur Wohnbauförderung?
Nehammer Dass diejenigen, die das Geld brauchen, tatsächlich auch dazu kommen. Es soll aber kein Entweder-oder, sondern ein zusätzliches Instrument sein. Jetzt ist die Wohnbauförderung ja sehr komplex in den einzelnen Bundesländern geregelt.

Sie ist also zu wenig effektiv?
Nehammer Naja, sie kann jedenfalls noch besser werden.

Nehammer im Interview: „Jeder, der nach Österreich kommt, entscheidet sich freiwillig für dieses Land“
Der Regierungschef im Gespräch mit Bundesländerzeitungen in seinem Büro in Wien – festgehalten durch einen Fotografen des Bundeskanzleramts. BKA/Andy Wenzel

In Ihrem Plan fordern Sie 20 Milliarden Euro für Straßen, nennen aber keinen konkreten Betrag für den Ausbau der Eisenbahnen. Warum diese Schieflage?
Nehammer Das resultiert aus der Politik des Verkehrsministeriums, das derzeit große Investitionen in die Schiene tätigt. Das Ausbaubedürfnis liegt aber auch in der Straße. Wir sollten anerkennen, dass Österreich Bahnfahr-Europameister ist. Aber es braucht beides: Straße und Schiene gleichermaßen.

Sie müssen nachholen, was die Infrastrukturministerin nicht macht?
Nehammer Ja.

Der stellvertretende Generalstabschef sagt, dass das Bundesheer wieder „kriegsfähig“ werden müsse. Unterstützen Sie diese Aussage?
Nehammer Das ist ein Fachterminus, der international verwendet wird, in Deutschland sagt das sogar der Verteidigungsminister. Ich war immer und bin dafür, dass die Verteidigungsfähigkeit Österreichs wieder ausgebaut wird, weil wir das Heer viele Jahrzehnte sträflich vernachlässigt haben. Es gab dementsprechende Analysen und Szenarien. Der russische Angriffskrieg hat uns aber gezeigt, dass wir hier viel zu tun haben – und das trifft die ganze Europäische Union. Die Verteidigungsfähigkeit wird angesichts der Bedrohungslagen immer diffiziler, darum ist etwa der Raketenschutzschirm „Sky Shield“ so wichtig. Und es sind nicht mehr nur territoriale Konflikte zwischen zwei Staaten, sondern immer mehr asymmetrische Bedrohungen.

Müsste man dann aber nicht auch die Neutralität stärker hinterfragen, wenn die Bedrohungen so zunehmen?
Nehammer Österreichs Neutralität steht nicht zur Diskussion, sie hat innerhalb der EU eine ganz andere Bedeutung als außerhalb. In der Union sind wir voll solidarisch und etwa auch Teil der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik. Der Wert der Neutralität zeigt sich aber vor allem auch außerhalb – in der Welt werden wir oft ganz anders wahrgenommen und gesehen. Und dadurch kann Österreich auch als Ansprechpartner für die Union fungieren. Weil wir nicht Teil eines militärischen Bündnisses sind und das mit einem Wertebild verknüpft wird, das für Bereiche in Asien oder Südamerika relevant ist. Die sprechen dann sehr unverkrampft mit uns. Und das hilft dann auch der Union.

Sie fordern in ihrem Programm die gesetzliche Verankerung einer „Leitkultur“. Was heißt das konkret?
Nehammer Ich habe Integrationsministerin Susanne Raab beauftragt, diesen Prozess einzuleiten. Warum ist mir das wichtig? Wir hatten seit den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Einwanderungswellen aus unserer Nachbarschaft. Das hat damals ganz gut funktioniert. Aber schon der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt – immerhin Sozialdemokrat – hat festgestellt, dass Zuwanderung aus fremden Zivilisationen Probleme schafft. Österreich ist aber, wenn wir von illegaler Migration sprechen, ein Binnenland. Jeder, der nach Österreich kommt, entscheidet sich freiwillig für dieses Land. Es ist daher geboten, dass sich jeder damit auseinandersetzt, wie hier gelebt wird und unsere Spielregeln respektiert und annimmt. Rechtsextreme wollen mit der Migration Stimmung machen. Daher will ich mich damit ernsthaft auseinandersetzen, bevor das Klima vergiftet wird.

Soll im öffentlichen Bereich ein Kopftuchverbot gelten?
Nehammer Es gibt im öffentlichen Dienst schon ein Neutralitätsgebot. Wir haben in Österreich aber eine mehr als tausendjährige Geschichte, sind geprägt durch christlich-jüdische Traditionen. Manche Glaubenssymbole wandeln sich da vom religiösen zum kulturellen Symbol. Das müssen wir berücksichtigen.

Was soll dann in dem Gesetz stehen?
Nehammer Für Menschen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns kommen, muss klar sein, was ist bei uns, was ist zu tun, was darf man tun, was darf man nicht tun, was verlangt das gesellschaftliche Zusammenleben, was bedeutet Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es ist auch Genitalverstümmelung in Österreich verboten und trotzdem gibt es sie. Wir müssen den Menschen klarmachen, was sie bei uns anzunehmen haben. Und wem das nicht taugt: Alles klar, aber dann bitte nicht hierher kommen.

Karl Nehammer (r.) betont im Interview die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner und damit mit Vizekanzler Werner Kogler von den Grünen (l.). <span class="copyright">Reuters/Leonhard Foeger</span>
Karl Nehammer (r.) betont im Interview die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Koalitionspartner und damit mit Vizekanzler Werner Kogler von den Grünen (l.). Reuters/Leonhard Foeger

Gibt es Punkte aus Ihrem Plan, die Sie bis zur Wahl auch mit den Grünen noch umsetzen könnten? Einiges klingt so, als ob das möglich sein sollte.
Nehammer Wir haben noch viel vor, was wir gemeinsam machen wollen. Wir haben den Finanzausgleich geschafft, auch wenn uns vorher viele gesagt haben, dass das nie möglich sein wird. Jetzt müssen wir den Ausbau der Kinderbetreuung und die Gesundheitsreform umsetzen. Wir müssen schauen, dass Wartezeiten für die Patienten wirklich kürzer werden. Wir haben uns vorgenommen, 100 Stellen für Kassenärzte zu schaffen. Jetzt haben wir so viel Interesse geschaffen, dass zusätzlich noch 100 Kassenstellen ausgeschrieben werden. In meinem Plan strebe ich bis 2030 dann insgesamt 800 zusätzliche Kassenstellen an.

Wir stehen am Beginn des Wahljahrs. Stand jetzt, Ende Jänner: Mit welcher Partei sehen Sie die größten Überschneidungen? Programmatisch könnte das die FPÖ sein – abgesehen von Parteichef Herbert Kickl?
Nehammer Zunächst will ich viele Menschen überzeugen, mir den Auftrag zu geben. Am Wahltag sehen wir weiter.

Wie schaut es da mit der FPÖ aus? Sie lehnen Kickl ab, nicht aber grundsätzlich die Partei.
Nehammer Die FPÖ ist eine breite Partei, nicht Herbert Kickl allein. Ich habe auch aus der Zeit der türkis-blauen Koalition noch viele Kontakte. Aber Kickl ist der Parteiobmann. Er hat sein Team und dominiert die Politik. Ich habe ihn als Koalitionspartner ausgeschlossen, weil er durch sein Verhalten einfach zeigt, dass er es nicht kann. Wer Koalitionen eingehen will, muss auch Kompromisse schließen. Er schreibt aber lieber Fahndungslisten. Aber man wird sehen, wie sich die FPÖ nach der Wahl positioniert.

Was macht Kickl aus Ihrer Sicht zum Rechtsextremen?
Nehammer Er sich selbst. Er sagt, er trägt die Bezeichnung Rechtsextremer als Orden, den er sich stolz an seine Brust heftet.

Andreas Babler als SPÖ-Chef auf der anderen Seite ist für Sie ein Marxist.
Nehammer Sie sagen wieder, er ist das für mich. Babler hat das selbst so gesagt.

Würden Sie auch als Vizekanzler in eine Regierung gehen?
Nehammer Die Frage stellt sich für mich nicht – ich sage Ihnen aber auch warum: Ich trete an, dieses Land zu führen und setze mich mit allem anderen nicht auseinander.

Das Interview führten Maximilian Werner (Vorarlberger Nachrichten), Annette Gantner (Oberösterreichische Nachrichten) und Wolfgang Sablatnig (Tiroler Tageszeitung) im Rahmen einer Kooperation von Bundesländerzeitungen in Wien.