Heuchler überall
Der Tod von Alexei Nawalny müsste im Westen auch den letzten Putin-Verstehern die Augen geöffnet haben. Dazu die Verhinderungsversuche, dass man dem im Straflager Getöteten die letzte Ehre erweist und die Putin-Rede, dass er jederzeit westliche Gebiete angreifen könne und die Gefahr eines Atomkriegs real sei. Zum zweiten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine wird immer öfter diskutiert, warum so viele im Westen bei der Einschätzung Putins so falsch lagen. Warum es so lang gedauert hat, bis die EU die richtigen Antworten auf die Aggression gegeben hat. Antworten liefert Paul Lendvai, 1929 in Budapest geboren, Leiter des ORF-Europastudios und Träger zahlreicher Auszeichnungen, in seinem neuen Buch „Über die Heuchelei“ (Zsolnay-Verlag). Er geißelt die politische Doppelzüngigkeit und die im Rückblick unverständlichen Handlungen von Spitzenpolitikern. Spätestens als der Putin-Kritiker Boris Nemzow gewarnt hatte: „Man darf mit Putin keine Kompromisse führen. Er hat sich die Krim genommen. Als nächstes wird er sich Kiew nehmen, danach ist die Republik Moldau dran, dann Polen und die baltischen Staaten“. Gesagt 2014, in einem ARD-Interview. Wochen später wurde Nemzow aus dem Hinterhalt ermordet.
Alle deutschen Regierungen hätten Putin unterschätzt, aus falsch verstandener Friedens-Sehnsucht und wegen des schlechten Gewissens wegen des Überfalls Russlands durch die Nazis. Hart ins Gericht geht Lendvai mit Politikern der SPD, dem früheren Kanzler Schröder, den Nawalny einst als „Putins Laufbursch“ bezeichnet hat, der Putin als lupenreinen Demokraten gepriesen und in Russland geschätzte 20 Millionen Euro verdient habe. Kritik am damaligen Außenminister und aktuellen Bundespräsidenten Steinmeier, aber auch an Angela Merkel, die sich am häufigsten mit Putin getroffen habe, und durch den Bau der Ostsee-Gas-Pipeline Putin in die Hände gespielt habe. Mit der Sympathie der extremen Rechten und Linken für Russland, von der AfD bis zu Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht. Fast als einziger habe der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck kritisiert, dass Deutschland politisch, wirtschaftlich, militärisch und mental geschwächt und in eine partielle Abhängigkeit gebracht worden sei.
In Österreich kritisiert Lendvai den früheren Bundespräsidenten Heinz Fischer und Ex-Kanzler Kurz, der Putin allein 2018 viermal getroffen und wesentlichen Anteil daran habe, dass sich Österreich bis 2040 zur Abnahme russischen Gases verpflichtet hat und damit weiterhin Putins Krieg finanziert. Heuchelei war die „langsame Hinrichtung der SPÖ-Vorsitzenden Rendi-Wagner“. Und er habe noch niemand gesehen und erlebt der, von Situation zu Situation die Rolle wechselnd, im Gerichtssaal oder im Weißen Haus, so makellos und unberührbar, so kontrolliert und so wandelbar, seine äußere Form bewahrend gewesen sei. Und: „Mit auswendig Gelerntem glänzend, in der Rolle des Opfers und jener des Anklägers, ein solcher Virtuose des politischen Handelns wie der 37 Jahre alte Polit-Pensionist mit Rückfahrkarte Sebastian Kurz.“ Geschrieben Monate vor dem jetzigen Prozess.
Ob Österreich aus den Fehlern lernt? Ich habe meine Zweifel. Die Versuche von Ministerin Gewessler, aus dem Gas-Vertrag auszusteigen, haben wenig Unterstützung. Fast unerträglich scheint die Unbelehrbarkeit der FPÖ, die an ihrem 2016 mit Russland abgeschlossenen Freundschaftsvertrag festhält. Noch 2019 wollte ihr Obmann Strache einen Gedankenaustausch von jungen Beamten mit Russland. Aufzuarbeiten ist sicher auch, wie in der Amtszeit von Innenminister Kickl der damalige Wirecard-Vorstand Marsalek für Russland spioniert und mitgeholfen hat, den österreichischen Geheimdienst zu unterwandern.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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