Lena regt auf

Der neue VN-Kommentator Christian Rainer über die Berichterstattung zur EU-Spitzenkandidatin der Grünen, Lena Schilling.
Ungewöhnlicher Beginn eines Kommentars (und auch nur einmalig heute): Ich heiße Christian Rainer. Ich war bis vor einem Jahr und davor ein Vierteljahrhundert lang Herausgeber und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „profil“, habe dabei zehn Bundeskanzler und zwölf Vizekanzler überdauert (und überlebt), die Unabhängigkeit der Redaktion in jeder Zeile verteidigt (und in dieser Zeit keine journalistischen Unfälle verursacht). Ich freue mich außerordentlich, ab nun für Sie in den VN regelmäßig schreiben zu dürfen. Warum gerade die VN? Weil ich dem Bundesland und dem Verlagshaus lange freundschaftlich verbunden bin. Vielleicht auch, weil ich selbst an einem See und hart an den Bergen (und mit der „Salzkammergut Zeitung“) aufgewachsen bin.
„Lena regt auf“, das ist der Titel dieses Textes. Mit Recht? Ich denke ja. Lena Schilling berührt so viele Aspekte des Lebens. Das geht weit über die Frage hinaus, wen wir oder unsere Kinder am 9. Juni ins Europaparlament wählen wollen, also weit hinaus über die Bedeutung der inzwischen großen Kleinpartei „Die Grünen – Grüne Alternative“. (Ja, sie bezeichnen sich tatsächlich noch immer als „Alternative“, obwohl sie seit vier Jahren Teil der Bundesregierung sind.)
Frau Schilling hat schlecht über andere Menschen gesprochen. Das steht nach Recherchen des „Standard“ außer Zweifel, und es ist in einem veröffentlichten Rechtsdokument auch bewiesen. Dabei wurden – in jenem dokumentierten Fall – sogar strafrechtlich relevante Vorwürfe gemacht. Allerdings spielte sich dieses „schlecht Sprechen“ im kleinen und damals privaten Umfeld ab. Die schlimmsten Vorwürfe fanden sich offensichtlich überhaupt nur in einer Chat-Nachricht, die dann vom Empfänger weitergegeben wurde. Die zentrale Frage daher: Geht das alles die Öffentlichkeit – also uns – etwas an? Oder ist das eben privat, zumal es noch dazu vor allem Beziehungstratsch betrifft: Wer hat wen angebaggert? Wer hat mit wem …? Aber zumindest einmal steht der Vorwurf von häuslicher Gewalt im Raum und einmal ein Belästigungsvorwurf.
Also privat oder nicht? Ich denke: Es sind private Angelegenheiten. Aber: Durch die Kandidatur von Frau Schilling für eine der wichtigsten Funktionen der österreichischen Politik (Spitzenkandidatin einer Regierungspartei bei der EU-Wahl!) wurde daraus eine öffentliche Angelegenheit. Jedoch: Darf es diesen Wechsel von privat zu nicht privat im Nachhinein geben? Ist das fair? Ja, sicherlich: Denn wer für ein derartiges Amt kandidiert, muss sich einen Charaktercheck gefallen lassen – und der geht natürlich tief ins dann nicht mehr Private.
Einfachere Antworten: Hat der „Standard“ mit dieser Publikation unzulässig Grenzen überschritten? Keinesfalls. Das öffentliche Interesse ist eben gegeben, und die Recherche erscheint mir trotz vieler anonymisierter Quellen dicht. Haben die Grünen gut reagiert? Sicher nicht. Der nachgerade militante Aufmarsch der Parteispitze samt pöbelnder Worte des Chefs machte die Angelegenheit um eine Dimension größer.
Ich habe Lena Schilling ein einziges Mal getroffen – 2023 bei einer TV-Diskussion. Sie erschien mir sehr klug in der Argumentation und überaus geschickt in der Interaktion – mit etwas wenig Distanz zu den anderen Diskutierenden. Vor einer Kandidatur bei der EU-Wahl warnte ich sie: Sie würde sich im rauen politischen Klima verheizen, meinte ich.
Christian Rainer, christian.rainer@vn.at
Christian Rainer ist Journalist und Medienmanager. Er war 25 Jahre lang Chefredakteur und Herausgeber des Nachrichtenmagazins profil.