Jürgen Weiss

Kommentar

Jürgen Weiss

Glaubwürdigkeit

Politik / 20.05.2024 • 16:20 Uhr

Die Werbewirkung einer jungen, zunächst sympathisch wirkenden Umweltaktivistin haben sich die grüne Parteispitze und ihre EU-Spitzenkandidatin Lena Schilling selbst wohl anders vorgestellt. Drei Wochen vor der Wahl muss sie sich nun mit dem Vorwurf aus den eigenen Reihen herumschlagen, für eine solche Funktion zwar fachlich, aber nicht charakterlich ausreichend geeignet zu sein. Ein Zurück gibt es allerdings nicht mehr, zumal sie bekräftigt, grüne Spitzenkandidatin bleiben zu wollen. Etwas anderes ginge rechtlich auch gar nicht, am Wahlvorschlag kann nichts mehr geändert werden. Selbst wenn sie erklären würde, nach der Wahl das Mandat nicht anzunehmen – die Plakate hängen bereits, eine Alternative ist nicht bei der Hand und es hilft wohl nur: Augen und Nase zu und durch.

„Es hilft wohl nur: Augen und Nase zu und durch.

Die Kritik an Frau Schilling, mehrfach Gerüchte verbreitet (vielleicht sogar selbst in die Welt gesetzt) zu haben, ist allerdings nicht frei von Scheinheiligkeit. Wenn so etwas für ein politisches Amt disqualifizieren würde, wären in der Politik die Reihen stark gelichtet. Aber es macht natürlich einen wesentlichen Unterschied, ob es sich um bloßen Tratsch handelt und jemand (wie Lena Schilling meint) einfach nur „gekränkt“ wurde. In ihrem Fall waren allerdings auch Anschuldigungen von häuslicher Gewalt oder strafbarer Belästigung dabei.

Die Urheber solcher Art von Kritik an einer Kandidatin hat man bisher regelmäßig (und nicht unzutreffend) bei politischen Gegnern vermutet. Diesmal ist es aber offenkundig, dass die Vorwürfe aus dem eigenen persönlichen und politischen Freundeskreis stammen. Die anderen Parteien gehen damit recht unaufgeregt um. Sie wissen, dass das Gift von selbst wirkt. Nach dem Bekanntwerden des Ibiza-Videos (und somit lange vor den Chatnachrichten von Thomas Schmid) verlangten die Grünen nach einer „untadeligen Person“ als Bundeskanzler und rieten Kurz, „zur Seite zu treten“. Bei eigener Betroffenheit sieht das jetzt natürlich ganz anders aus und wächst sich zu einem Glaubwürdigkeitsproblem der Grünen aus. Dabei war der Anspruch, glaubwürdig und anständig zu sein, früher ein Markenkern. Den hat Lena Schilling gründlich beschädigt. Selbst beschädigt hat sich aber auch die grüne Parteispitze mit ihrer Taktik, das ihr schon länger bekannte Problem zunächst unter den Teppich zu kehren und schließlich aussitzen zu wollen.

Bundespräsident Van der Bellen hat sich altersmilde und verständnisvoll gezeigt („wer macht keine Fehler“). Über einen solchen präsidialen Beistand hätten sich wohl auch jene Politikerinnen und Politiker gefreut, die mit anonymen und sich später dann durchwegs als haltlos herausstellenden Anschuldigungen in die Medien gezerrt wurden.

Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates (ÖVP) zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.