Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Rücktritt als Haltung

Politik / 27.01.2025 • 07:05 Uhr

Durch die Diskussion über den 180-Grad-Schwenk der ÖVP gegenüber der FPÖ ist ein bemerkenswertes Ereignis in den Hintergrund getreten: der Rücktritt eines Politikers, konkret: von Karl Nehammer. Selbst die Wiener Stadtzeitung Falter, nicht gerade das Zentralorgan der Konservativen, kam nicht umhin, Nehammer zum „Hero der Woche“ zu küren. Spontan wurde in einigen Medien vermutet, Nehammer tue sich leicht, weil er wie andere ÖVP-Politiker vom Umfeld des Raiffeisen-Konzerns aufgefangen werde. Nix da. Nehammer wagt den Schritt in die Selbstständigkeit.

Politiker-Rücktritte haben Seltenheitswert in einer Zeit, in der so manche ihr Rückgrat an der Garderobe der gerade Mächtigen abgeben. Ob amerikanische Tech-Giganten bei Trump oder die ÖVP. Nach krachenden Wahlniederlagen, wie jener des Ex-Landeshauptmanns der Steiermark, Christoph Drechsler (ÖVP) herrscht wenig Einsicht über die eigene Unzulänglichkeit. Drechsler musste von den eigenen Leuten zur Vernunft gebracht werden. Oder in der SPÖ: Deren Tiroler Ex-Chef Dornauer musste zwar nach einem Jagdausflug mit Österreichs nunmehr prominentestem U-Häftling seine Regierungsämter und den Parteivorsitz abgeben. Im Landtag will er aber bleiben. Als ob an Abgeordnete niedrigere moralische Standards gestellt würden als an Regierungsmitglieder.

Nehammer hielt sich offenbar an einen Spruch des deutschen Ex-Kanzlers Gerhard Schröder (SPD): „In der Politik kommt der Zeitpunkt, an dem man gehen muss, bevor man gegangen wird“. Oder an Friedrich Dürrenmatt: „Ein Rücktritt ist oft der letzte Versuch, Haltung zu zeigen“. Haltung war eher eine Eigenschaft früherer Zeiten: ÖVP-Kanzler Josef Klaus, der 1970 zurücktrat, weil er gegen Bruno Kreisky die absolute Mehrheit verlor. Oder Kreisky selbst 1983, wie er das für den Verlust der Absoluten angekündigt hatte. Die Liste der Rücktritte nach Niederlagen unter Wahrung des Gesichts ließe sich fortsetzen: Alois Mock, Erhard Busek, Wolfgang Schüssel und Wilhelm Molterer (alle ÖVP), Alfred Gusenbauer (SPÖ). Oder Susanne Riess-Passer (FPÖ) nach massiven innerparteilichen Konflikten, oder Reinhold Mitterlehner (ÖVP) nach dem Mobbing durch die Truppe um Sebastian Kurz. Selbstverschuldete Rücktritte wie in den Achtziger-Jahren im Zug der Lucona-Affäre der SPÖ-Minister Blecha und Gratz oder wie von Heinz Christian Strache (FPÖ) nach dem Ibiza-Skandal oder von Kurz nach anhaltenden Korruptionsermittlungen sind hier nicht mitgerechnet.

Ich gebe zu, in letzter Zeit erfolgt der Ruf nach Rücktritten bisweilen inflationär. Man denke nur an die Serie von Aufforderungen Herbert Kickls an die Regierung aus ÖVP und Grünen. Oder an Rücktritts-Aufforderungen, wenn die WKStA Erhebungen aufnimmt. Da ist der Hinweis auf die Unschuldsvermutung oft nur eine Worthülse, zumal die Verfahren durchaus häufig auch eingestellt werden. Einem aktuellen Politiker ist auch nur der Gedanke an einen Rücktritt gänzlich fremd. Andreas Bablers Niederlagen-Serie sucht ihresgleichen: EU-Wahl, NR-Wahl. Die Landtagswahlen in Vorarlberg und der Steiermark waren auch kein Ruhmesblatt. Die Koalitionsverhandlungen durch sprunghaftes und oft nicht nachvollziehbares Verhalten gesprengt. Seit Doskozil im Burgenland vorexerziert, wie man erfolgreich eine Brandmauer gegen die FP bilden kann, fragen sich in der SPÖ immer mehr Leute, ob sie nicht doch den falschen Obmann gekürt haben. Wie sagte doch Angelika Merkel: „Politik bedeutet, Entscheidungen zu treffen – manchmal bedeutet es auch zu wissen, wann der Moment gekommen ist, Platz für andere zu machen.“

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.