Dramatischer Koalitionspoker? Welche Rolle Alexander Van der Bellen jetzt spielt

Inhalte, Minister, Kanzler: Wie der Bundespräsident auf die künftige Regierung einwirken und Druck ausüben kann.
Schwarzach Neuwahl oder Weitermachen? Die Verhandlungen von FPÖ und ÖVP auf Bundesebene stocken. Gespräche mit dem Bundespräsidenten haben bereits stattgefunden (ÖVP-Chef Christian Stocker) oder sind anberaumt. FPÖ-Chef Herbert Kickl wird Alexander Van der Bellen heute treffen. Ungewöhnlich ist dies zwar nicht, zumal Kickl ohnehin regulär Bericht erstattet. Allerdings könnte der heutige Tag für eine möglich neue Bundesregierung zum Schicksalstag werden. Alexander Van der Bellen kann dabei eine Rolle spielen. Welche, zeigt ein Überblick.
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Kann der Bundespräsident Inhalte eines Koalitionsabkommens verändern?
„Nur indirekt“, sagt Verfassungsjurist Peter Bußjäger. Der Bundespräsident hat insofern ein Druckmittel, als er Inhalte fordern oder kritisieren kann. „Er kann zu erkennen geben, dass er eine Regierung nur angelobt, wenn sie bestimmte Inhalte im Koalitionsabkommen festlegt“, erklärt er. Das wäre im vorliegenden Fall etwa eine klar proeuropäische Ausrichtung, auf die Alexander Van der Bellen mit Nachdruck pocht. Der Bundespräsident kann in den Gesprächen auch fordern, Inhalte abzuändern. Umstritten sind etwa Begriffe, deren sich die FPÖ gerne bedient. Stichwort: Remigration. Der Bundespräsident könnte erklären, die Regierung nur anzugeloben, wenn der Inhalt des Abkommens umformuliert wird.

Kann der Bundespräsident auf die Einteilung der Ministerien einwirken?
„Auch hier kann er das nur indirekt tun, indem er Druck ausübt und zu erkennen gibt, dass er nicht gewillt ist, eine Regierung unter gewissen Voraussetzungen anzugeloben“, erklärt Bußjäger. Was zum Beispiel als umstritten gelten könnte, wäre, wenn Innen-, Verteidigungs- und Justizressort in der Hand einer Partei liegen würden. Fraglich ist auch, ob Van der Bellen die EU-Agenden bei der FPÖ am richtigen Platz sieht. Die Besetzung des Finanzministeriums ist ebenfalls sensibel.

Kann der Bundespräsident vorgeschlagene Minister ablehnen?
„Ja. Er kann das“, sagt Bußjäger. Das ist in der Vergangenheit auch schon geschehen. Im Jahr 2000 lehnte der damalige Bundespräsident Thomas Klestil die FPÖ-Politiker Hilmar Kabas und Thomas Prinzhorn als Verteidigungs- und Infrastrukturminister ab. Ein Bundespräsident kann auch im Vorfeld ankündigen, wen er nicht in der Regierung sehen möchte. Das hat Van der Bellen 2017 getan, als er Botschafter der EU-Staaten wissen ließ, dass er Johann Gudenus und Harald Vilimsky nicht angeloben würde.

Wer schlägt die Ministerinnen und Minister vor?
Das macht der Bundeskanzler. „Der Bundespräsident kann diesem Vorschlag folgen oder nicht. Er kann aber niemanden ernennen, der nicht vom Bundeskanzler vorgeschlagen wurde“, erklärt Peter Bußjäger. Das bedeutet: Der Bundespräsident hätte nicht die Macht, dem Bundeskanzler ein Regierungsmitglied aufzudrücken.

Wer schlägt vor, wer Bundeskanzler wird?
„Hier hat der Bundespräsident völlig freie Hand“, sagt der Verfassungsjurist. „Er kann jemanden ernennen oder nicht. Das liegt völlig in seinem Ermessen.“
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Könnte der Bundespräsident etwas gegen eine parlamentarische Mehrheit tun?
Theoretisch ja. Erfolgversprechend wäre das allerdings nicht. Würde sich Van der Bellen entscheiden, eine Regierung aus Grüne und Neos anzugeloben, würde sie angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat wohl nicht lange bestehen. „Die Mehrheit des Nationalrates kann die Bundesregierung jederzeit stürzen. Der Bundespräsident muss beurteilen, inwieweit eine Chance besteht, dass die Regierung eine gewisse Zeit im Amt bleiben kann“, hält Bußjäger fest.

Könnte der Bundespräsident die Koalitionsverhandlungen in eine nächste Runde schicken?
Der Auftrag zur Regierungsbildung ist mehr oder weniger gelebte Praxis. „In der Verfassung wird er nicht erwähnt“, erklärt Bußjäger. Theoretisch könnte die ÖVP Parallelverhandlungen mit anderen Parteien führen. „Letztlich entscheidet der Bundespräsident, wer seine Akzeptanz findet.“ Theoretisch könnte Van der Bellen Herbert Kickl auch ausrichten, dass er die Regierungsbildung als gescheitert betrachtet und jemand anderem den Auftrag erteilen. Dies gilt aber als unwahrscheinlich, zumal die Optionen neben der gescheiterten Dreierkoalition von ÖVP, SPÖ und Neos und Blau-Schwarz nahezu ausgeschöpft sind.
Kann der Bundespräsident eine Neuwahl ausrufen?
„Der Bundespräsident kann den Nationalrat auflösen“, sagt Bußjäger. „Dazu braucht er aber den Vorschlag der aktuell im Amt befindlichen Bundesregierung.“ Der Beschluss hat in der Bundesregierung einstimmig zu erfolgen.
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130 Tage seit der Wahl
29.9. Nationalratswahl: Die FPÖ wird erstmals stärkste Partei im Parlament. Sie erreicht 28,8 Prozent der Stimmen (57 Mandate), die ÖVP 26,3 (51), die SPÖ 21,1 (41), die NEOS 9,1 (18) und die Grünen 8,2 Prozent (16). Als Zweier-Koalitionen kommen nur FPÖ-ÖVP, FPÖ-SPÖ sowie – mit äußerst knapper Mehrheit – ÖVP-SPÖ in Frage.
1.10. ÖVP-Chef und Bundeskanzler Karl Nehammer spricht sich dafür aus, dass FPÖ-Obmann Herbert Kickl von Bundespräsident Alexander Van der Bellen mit Sondierungen beauftragt wird.
2.10. Die türkis-grüne Regierung bietet dem Bundespräsidenten den Rücktritt an, er betraut sie mit der Fortführung der Geschäfte. Einzig Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) gibt ihren Posten auf eigenen Wunsch bereits ab.
4.10. Van der Bellen beginnt die erste Gesprächsrunde mit den fünf Parlamentsparteien. Als erster wird Kickl in der Präsidentschaftskanzlei empfangen. Dabei teilt er dem Bundespräsidenten seinen Willen zum Regieren mit, wie er am folgenden Tag in einer Pressekonferenz berichtet.
9.10. Van der Bellen erteilt nach der ersten Gesprächsrunde vorerst keinen Regierungsbildungsauftrag und fordert die Chefs der stimmenstärksten Parteien FPÖ, ÖVP und SPÖ auf, “zu klären, welche Zusammenarbeit vorstellbar wäre”, um die “Pattsituation” zu lösen.
15.10. Kickl und Nehammer kommen zu einem Gespräch zusammen. Nehammer bleibt dabei, dass er eine Koalition mit der FPÖ unter Kickl ausschließt.
18.10. Kickl und Andreas Babler (SPÖ) kommen zu einem Gespräch zusammen. Auch der SPÖ-Chef schließt erneut jede Zusammenarbeit mit der FPÖ aus.
22.10. Nach einer zweiten Gesprächsrunde erteilt Van der Bellen Nehammer den Auftrag zur Regierungsbildung und ersucht ihn, umgehend Verhandlungen mit der SPÖ aufzunehmen und zu klären, ob es einen dritten Partner braucht.
24.10. Konstituierende Sitzung des Nationalrats mit der Wahl von Walter Rosenkranz (FPÖ) zum Nationalratspräsidenten.
25.10. Start der Sondierungsgespräche zwischen ÖVP und SPÖ
12.11. Nach der vierten Sondierungsrunde laden ÖVP und SPÖ die NEOS ein, als dritter Partner am Gesprächstisch Platz zu nehmen. Am folgenden Tag beginnen die Sondierungen zu dritt.
18.11. Nehammer, Babler und Beate Meinl-Reisinger (NEOS) kündigen die Aufnahme offizieller Koalitionsverhandlungen an.
21.11. Die Koalitionsverhandlungen in sieben Hauptclustern und 33 Untergruppen starten.
26.11. Der Gehaltsabschluss der öffentlich Bediensteten sorgt für den ersten Zwist zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS. Die pinken Verhandler fordern ein klärendes Gespräch, das am folgenden Tag stattfindet.
2.12. Die angespannte Budgetsituation belastet das Koalitionsklima. Die SPÖ droht mit einer Pause der Koalitionsgespräche, sollte es keinen “Kassasturz” geben.
13.12. Die Untergruppen schließen ihre Arbeit ab.
16.12. Von der EU-Kommission werden die vier möglichen Konsolidierungspfade vorgelegt: Innerhalb von vier oder sieben Jahren muss Österreich zwischen 18 und 24 Milliarden Euro einsparen.
3.1.2025 Meinl-Reisinger erklärt den Ausstieg der NEOS aus den Koalitionsverhandlungen. Sie vermisst die Bereitschaft zu grundsätzlichen Reformen seitens ÖVP und SPÖ. ÖVP und SPÖ wollen dennoch weiterverhandeln.
4.1. Nehammer bricht die Gespräche mit der SPÖ ab und kündigt seinen Rücktritt als Kanzler und ÖVP-Chef an.
5.1. Nehammer legt den Regierungsbildungsauftrag zurück. Die ÖVP hat mit Christian Stocker einen neuen geschäftsführenden Parteichef. Er betont, ein allfälliges Gesprächsangebot der FPÖ zu Koalitionsverhandlungen annehmen zu wollen.
6.1. Nach einem rund einstündigen, von Protesten begleiteten Gespräch zwischen Bundespräsident Van der Bellen und FPÖ-Chef Kickl teilt das Staatsoberhaupt mit, dem Freiheitlichen den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt zu haben. Er habe sich diesen Schritt nicht leicht gemacht, sagt Van der Bellen.
7.1. FPÖ-Chef Kickl lädt die Volkspartei zu Verhandlungen ein.
8.1. Stocker erklärt, das FPÖ-Angebot für Verhandlungen annehmen zu wollen. Am Abend kommen Kickl und Stocker zu einem ersten Gespräch zusammen, dabei wird die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen beschlossen.
9.1. Mehrere Zehntausend Menschen demonstrieren am Wiener Ballhausplatz gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ, auch in anderen Landeshauptstädten wie Graz, Salzburg und Innsbruck wird protestiert.
10.1. Bundespräsident Alexander Van der Bellen betraut Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) mit dem Vorsitz der Regierung. FPÖ und ÖVP nehmen Koalitionsverhandlungen auf.
13.1. FPÖ und ÖVP verkünden eine Einigung auf einen gemeinsamen Budget-Pfad, der nach Brüssel übermittelt wird, um ein Defizitverfahren zu vermeiden.
14.1. Für Befremden bei der ÖVP sorgen eine heimlich mitgeschnittene Aufnahme von Stammtisch-Aussagen der FPÖ-Nationalratsabgeordneten Harald Stefan und Markus Tschank über die Volkspartei sowie die EU.
16.1. Die blau-schwarzen Koalitionsverhandler stellen Details des geplanten Sparpakets in Höhe von rund 6,4 Mrd. Euro vor.
17.1. Die EU-Kommission erklärt, nach Prüfung der Maßnahmen aktuell kein Defizitverfahren gegen Österreich einzuleiten.
20.1. Die thematischen Untergruppen nehmen ihre Arbeit auf.
25.1. Für Verstimmungen bei der FPÖ sorgen Aussagen von ÖVP-Chef Stocker, der in einem medialen Hintergrundgespräch eine Kurskorrektur von den Freiheitlichen forderte. Für weiteren Zündstoff sorgt die von der FPÖ eingebrachte Forderung nach einer Bankenabgabe.
5.2. Die Regierungsbildung ist mit 129 Tagen die längste in der Geschichte der Zweiten Republik. So lange dauerte die Regierungsbildung nur nach der Nationalratswahl 1962 – damals wurde nach 129 Tagen eine neue Regierung angelobt.