Kommentar: Verhängnisvolles Schweigen
Schweigen wird in aller Regel positiv beurteilt. Man spricht von der Klugheit des Schweigens, seinem meditativen Charakter und kreationsfördernden Effekt oder seiner spannungslösenden, beruhigenden Wirkung. Schweigen kann achtsam und taktvoll, mitfühlend und nachsichtig, andächtig und ehrfürchtig, letztlich überlegen und souverän sein. Im Schweigen suchen wir die Kraft der Stille und finden oft geistige Klarheit. Es bedeutet Tiefgang, Selbstkontrolle, Respekt, sogar Weisheit und Gelassenheit. Im Schweigen übt man sich bei religiösen Meditationen und speziellen Methoden der Psychotherapie. Schweigen schafft es, sich ohne jedes Reden als beredet und ohne ein einziges Wort als vielsagend zu erweisen. Schweigen ist, so widersprüchlich dies klingt, die intensivste Kommunikationsform überhaupt.
Nicht zu reden hat aber auch eine andere, eine destruktive Seite. Diese reicht vom Schweigeterror in der Partnerschaft über das Schweigen aus Feigheit oder Arroganz bis zu Schweigekartellen in der Wirtschaft und Gesprächsverweigerung auf politischer Ebene. Kaum eine Form der psychologischen Kriegsführung ist so effektiv wie das Schweigen. Denn es verhindert jegliche Lösung und ruft beim Gegenüber Gefühle der Verunsicherung, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht hervor.
Destruktives Schweigen belastet Partnerschaften und Gemeinschaften, es zerstört Freundschaften und Bündnisse. Bei kleinen und großen Konflikten verhindert diese besondere Ausdrucksweise jeglichen Ausgleich und ist ein sich auf die körperliche – nicht nur die psychische – Gesundheit durchschlagender Faktor. Ohne Beendigung der Schweigeblockade lassen sich weder persönliche noch gesellschaftliche Konflikte lösen und schon gar nicht kriegerische Auseinandersetzungen. Solches Schweigen ist ein Kriegstreiber und Friedensverhinderer ersten Ranges.
Deshalb werden sich die endlosen Konflikte im Nahen Osten oder zwischen Russland und der Ukraine nicht lösen lassen, bevor die Gegner wieder miteinander reden. Allein das Gespräch öffnet das Tor zum Frieden, dies ist eine einfache, aber unumgängliche Tatsache. Ist es nicht paradox, dass die sich so narzisstisch gebärdenden Führungsgestalten nicht einmal in der Lage sind, das einzusetzen, was das Menschsein überhaupt ausmacht, nämlich das Wort? In einer hochentwickelten Gesellschaft sollte es deshalb Gebot sein, die Macht nur jenen anzuvertrauen, die auch in schwieriger Lage fähig sind, das Wort zu ergreifen und nicht die Waffen sprechen zu lassen.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
Kommentar