Christian Rainer

Kommentar

Christian Rainer

Kommentar: Sommerloch mit Kanzlerfüllung

Politik / 01.08.2025 • 11:25 Uhr

Ein Sommerinterview des Bundeskanzlers – traditionell eine jener Bühnen, auf denen der Regierungschef wenigstens einmal im Jahr den Anschein von Vision, Haltung oder gar Mut erwecken könnte. Christian Stocker hat diese Bühne vergangene Woche bei der Austria Presse Agentur betreten – und sie mit einer Mischung aus Banalität, Selbstberuhigung und politischer Duckmäuserei wieder verlassen. Wer – wie so viele – behauptet, der neue Kanzler würde die Ruhe im Land für eine ernsthafte Standortbestimmung nutzen, bekam stattdessen eine Gratislektion im Nichtsagen.

Die Pensionen: Ein intellektuelles Hütchenspiel

Erster Punkt: das gesetzliche Pensionsalter. Seit Jahren fordern Ökonomen, Teile des ÖVP-Wirtschaftsflügels und internationale Institutionen eine Anhebung – weil die Lebenserwartung steigt und die Finanzierung wackelt. Stocker hingegen erklärt, er wolle daran nicht rütteln, wichtiger sei ihm, die Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Das klingt nach Strategie, ist aber ein intellektuelles Hütchenspiel: Denn ohne höhere Erwerbsquoten – also ohne längeres Arbeiten – ist genau das nicht erreichbar. Der Kanzler tut so, als ließe sich die Quadratur des Kreises durch ein freundliches “Wir schaffen das irgendwie” ersetzen. Reform? Verschoben.

Neutralität: Die Selbstlüge bleibt sakrosankt

Zweiter Punkt: Österreichs Neutralität. Auch hier: keine Bewegung. Der Kanzler erklärt sie für unantastbar, als sei sie ein Naturgesetz. Kein Wort darüber, dass diese Neutralität 1955 nichts anderes war als ein Deal mit den Sowjets, ein diplomatisches Kunstprodukt, das Österreich in eine geopolitische Komfortzone brachte. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist diese Komfortzone Geschichte. Doch statt zu erklären, wie sich ein kleines Land im 21. Jahrhundert verteidigen will, klammert sich Stocker an die vertraute Fiktion. Diskussion? Verboten. Lieber schweigen und hoffen, dass niemand merkt, dass die Neutralität von einst heute nichts mehr schützt. Wer keine Antwort hat, versteckt sich hinter Mythen.

Reformpartnerschaft: Ein harmonisches Gruppenfoto

Drittens: Die groß angekündigte “Reformpartnerschaft” zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Der Kanzler sei “zuversichtlich”. Wofür genau? Für ein harmonisches Gruppenfoto? Wie diese Partnerschaft funktionieren soll? Keine Antwort. Wer konkrete Reformen erwartet hatte, bekam ein Placebo: ein wolkiges Versprechen ohne Inhalt, ohne Zeitplan, ohne jede Kontur.

Gaza: Diplomatie als Dauerschleife

Und dann Gaza. Stocker nennt das Leid der Zivilbevölkerung “nicht akzeptabel”. Eine moralische Selbstverständlichkeit, gefolgt von nichts. Kein Vorschlag, keine Position, kein Risiko. Stattdessen das müde Mantra: Israel habe ein Recht auf Selbstverteidigung, Hamas könne den Krieg beenden, eine politische Lösung sei das Ziel. Nona. Als hätte jemand die diplomatische Standardphrase “Wir sind betroffen” in den Kanzler einprogrammiert und auf Dauerschleife gestellt.

Ein Kanzler zum Überwintern

Was bleibt? Ein Interview voller Sätze, die klingen sollen wie Politik, aber nichts anderes sind als die Kunst des unverbindlichen Überwinterns. Stocker verwechselt Ruhe mit Führung, Stille mit Staatskunst. Wer nach dieser Lektüre noch glaubt, dieser Kanzler samt seiner Regierung werde die großen Fragen – Alterung der Gesellschaft, Verteidigungsfähigkeit, Zu-Tode-Regulierung, außenpolitische Rolle – anpacken, glaubt auch, dass sich die Sonne um die Erde dreht und Chemtrails die zugehörigen Auspuffgase sind.