Grüner Rollenwechsel
Die Grünen sind jene Partei, an der Wankelmütigkeit und Themenorientierung der Wähler am besten zu beobachten sind. Bei der Nationalratswahl 2013 waren Bildung und Arbeitsplätze beherrschende Themen. Die Grünen erreichten 12,4 Prozent. Vier Jahre und eine Flüchtlingswelle später flog die Umweltpartei mit nur 3,8 Prozent aus dem Nationalrat. Viele Wähler stellten sich im Duell von Sebastian Kurz gegen Christian Kern an die Seite des SPÖ-Kanzlers. 2019 schaffte Werner Kogler mit 13,9 Prozent wiederum das beste Grün-Ergebnis auf Bundesebene seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren. Dank Fridays for Future und Greta Thunberg stand Klimaschutz ganz oben auf der Agenda aller Wähler. Die darauf folgende Regierungsbeteiligung wurde bei den Wahlen 2024 allerdings nicht belohnt: Mit 8,2 Prozent mussten die Grünen als wieder kleinste Parlamentspartei in Opposition. Statt ums Klima sorgten sich die Wähler mehrheitlich um Teuerung und Zuwanderung.
Gewessler muss die Grünen thematisch breiter aufstellen und ihnen wieder angriffige Opposition lehren.
Leonore Gewessler hat daher eine klare Aufgabe als neue Parteichefin. Sie muss die Grünen thematisch breiter aufstellen und ihnen wieder angriffige Opposition lehren. Für beides verpasste sie im ORF-Sommergespräch die Gelegenheit, weil sie zu brav und defensiv auf die ihr gestellten Fragen antwortete. Keine Botschaft, keine Ansage, keine Vision blieb wirklich hängen. Dass sich Gewessler auch Autofahrer als Wähler wünscht, hat die Gegnerin von Straßenbau schon zu oft wiederholt. Bei der Messenger-Überwachung aber will sie erst prüfen, ob die Grünen den Verfassungsgerichtshof anrufen. Eine sogar von der UNO kritisierte Abschiebung nach Syrien ist für Gewessler in Ordnung, weil ein Gericht sie guthieß. Die Ankündigung von Innenminister Karner, auch künftig keinen Familiennachzug nach Österreich zu erlauben, kritisiert Gewessler nicht als Verstoß gegen die Menschenrechte.
Die ehemalige Ministerin muss aber auch einen persönlichen Rollentausch vollziehen. Mit ihrer Zustimmung zur EU-Renaturierungsverordnung ist sie zur Heldin in den eigenen Reihen, aber zum Feindbild der ÖVP geworden. Ihr wird von allen Parteichefs die geringste Kompromissfähigkeit zugestanden. Da auch zukünftig eine Mehrheit ohne ÖVP kaum möglich scheint, kann die neue Parteichefin also rasch zum Klotz am Bein bei Regierungsverhandlungen werden. Aber den Weg dorthin entscheiden zunächst Wahlergebnisse. Dafür haben die Grünen vorerst Zeit. Die nächsten Landtagswahlen in Tirol und Oberösterreich finden 2027 statt. Das wären noch zwei Sommergespräche für Gewessler.
Die Erschöpfung der Grünen nach der Regierung ist allerdings in den Bundesländern ebenso spürbar. 2015 noch in sechs Landesregierungen von Vorarlberg über Tirol, Salzburg, Oberösterreich, Kärnten und Wien vertreten, bleibt ihnen heute nur noch das Burgenland. Die Wahl Hans Peter Doskozils (SPÖ) fiel auf sie, weil die Grünen als der einfachste Partner galten. Grünwählerinnen und Grünwähler sind hingegen anspruchsvoll und undankbar. Sie wollen von Wahl zu Wahl aufs Neue überzeugt werden und denken gern taktisch. Eine Chance ist die aktuelle Parteienkonstellation: Nicht alle mit der Dreierkoalition Unzufriedenen werden FPÖ wählen wollen. Das Sommergespräch von Herbert Kickl ist also die nächste Chance der Grünen.
Kommentar