Kommentar: Ende der Trittbrettfahrt
Wir erleben täglich neue Wendungen bei Donald Trump. Aber in einem war er bisher berechenbar. Europa habe sich zu lange bei der Landesverteidigung auf die USA verlassen und die eigenen Ausgaben sträflich vernachlässigt. Stimmt. Nicht einmal die Annexion der Krim durch Russland hat Europa wachgerüttelt. Das haben erst der Überfall auf weitere Teile der Ukraine und die Ankündigung, die US-Verteidigungsausgaben zu reduzieren, bewirkt. Plötzlich ist man bereit, die Verteidigung aus eigener Kraft zu stärken, durch massiven Ausbau der Militärbudgets und einen verstärkten Schulterschluss durch gemeinsame Waffenbeschaffung und flexiblere Budgetregeln für deren Ankauf. Ein Strategiewechsel.
In Europa geht die Angst um, dass der Appetit Putins auch auf andere Länder groß sein könnte. Nun gibt es erstmals die Möglichkeit einer Friedensvereinbarung für die Ukraine. Dabei wird auch die Stationierung westlicher Truppen in der Ukraine oder auf NATO-Gebiet in deren Nähe angedacht. Heißt: Europa muss nicht nur aufrüsten, es braucht Soldaten. Doch heute haben nur noch rund ein Dutzend europäische Staaten eine aktive Wehrpflicht (z. B. Österreich, Schweiz, die neuen Natomitglieder Finnland und Schweden, Norwegen, Griechenland, die baltischen Staaten, Dänemark). In anderen Ländern ist die Wehrpflicht ausgesetzt, aber rechtlich jederzeit zu reaktivieren (etwa Deutschland und Ungarn). Wie schaut es mit dem Wehrwillen der Bevölkerung aus? Hier klafft zwischen der Bereitschaft der Politik und jener der Bevölkerung eine Kluft, die einem – immer Putin vor Augen – Angst machen kann. Gallup, eines der weltweit führenden Meinungsforschungsinstitute, hat im Vorjahr eine Umfrage mit 46.000 Befragten in 45 Ländern durchgeführt. Weltweit haben 52 Prozent angegeben, sich im Ernstfall mit der Waffe verteidigen zu wollen. In Europa aber nicht einmal ein Drittel. Die niedrigste Kampfbereitschaft gibt es in Italien (78 Prozent dagegen). In Österreich sagen 62 Prozent Nein, in Deutschland 57 Prozent. Zum Vergleich: Die Ukrainer sind zu 62 Prozent dafür, auch wenn sie aktuell einen hohen Blutzoll zahlen.
Der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer hat jetzt (im Mediennetzwerk Project Syndicate) geschrieben, dass Europa durch Trump zunehmend isoliert wird und zwischen zwei aggressiven Großmächten (USA und Russland) eingeklemmt ist. Es stelle sich die Frage, ob Europa bereit sei, sich zur eigenständigen Macht zu entwickeln, um in dieser sich wandelnden globalen Machtarchitektur bestehen zu können. Da werden auch wir uns nicht entziehen können. Ins selbe Horn hat gerade Außenministerin Meinl-Reisinger in Alpbach gestoßen und sich für eine gemeinsame europäische Verteidigungsunion ausgesprochen. Sie wisse aber, dass das nicht gemeinsame Position der Bundesregierung sei. Und: Man könne nicht neutral sein angesichts einer Bedrohung, wie sie der Ukraine-Krieg zutage gefördert habe. Vielleicht hat die Ministerin damit eine längst fällige Debatte angestoßen. Werden wir, unter den militärischen Trittbrettfahrern Europas führend, endlich den Irrglauben ablegen, dass uns die Neutralität schütze? Wir verdrängen gern, dass wir mit dem Beitritt zur EU auch Teil der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)“ sind. Das verpflichtet die EU-Staaten, alle Unterstützung zu leisten, wenn ein Mitglied das Opfer eines bewaffneten Angriffs wird. Auch militärisch, also mit Soldaten. Angesichts der Tatsache, dass 69 Prozent der Österreicher (m/w) an der Neutralität festhalten wollen, sollte diese Neutralität zumindest offen neu bewertet und weiterentwickelt werden. Eine Wehrdienst-Verlängerung oder ein Wehrdienst für Frauen (hat Dänemark gerade eingeführt) dürfen dabei kein Tabu mehr sein.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
Kommentar