Erst kommt die Moral, dann das Fressen
Die Republik jubelt, weil sie die Pensionen nur um 2,7 Prozent erhöht – im Schnitt 2,25 –, und verkauft die volle Inflationsabgeltung bis 2.500 Euro als Heldentat. Wer darüber liegt, bekommt eine Pauschale. In einem Land, das Anspruch mit Anspruchslosigkeit verwechselt, gilt das bereits als Reform.
Gleichzeitig meldet die Österreichische Nationalbank Wachstum: 0,3 Prozent heuer, 0,8 nächstes Jahr, 1,1 im Jahr darauf. Das ist kein Aufbruch, das ist der Minimalpuls einer Wirtschaft im Halbschlaf – statistisches Flimmern. Würde ein Kind so „wachsen“, schickten wir es zum Arzt; bei der Volkswirtschaft nennt man es „verhalten“.
Während die Regierung klammheimlich den Sieg über die Seniorenlobby feiert, brennt der Einkaufszettel: 4,1 Prozent Inflation im August, gegenüber 2,1 Prozent im Euroraum. Nicht Prozentpunkte, bitte mitschreiben, sondern Prozent: 100 Prozent höher als bei den anderen. Österreich kocht weiter auf kleiner Flamme und redet sich die Temperatur schön.
Die Arbeitsgesellschaft, unser berühmter „Standort“, entlarvt sich nebenbei selbst. Wie auch vergangenen Woche publiziert: Österreichs Lebensarbeitszeit liegt am unteren Rand der Industriestaaten; wir steigen früh aus, leben danach lange und verwechseln den Schein hoher Beschäftigungsquoten mit Fleiß, weil Teilzeit als Nebelmaschine fungiert. Individuell rational, kollektiv ruinös.
Karl Kraus nannte dieses Land eine „Versuchsstation des Weltuntergangs“. Selten passte der Satz besser: Rundherum fliegen die Fetzen – Russland, China, Indien, USA pressen Europa –, und Österreich feiert Friedhofsruhe. Man hält sich an Indikatoren wie an Votivkerzen: eine Zahl hinterm Komma, ein Prozentlein mehr oder weniger – und schon ist eine Pressekonferenz gerettet!
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, schrieb Brecht. Wir drehen es um: Erst kommt die Moral der Besitzstandswahrer, dann das Fressen – für die, die noch ein Einkommen haben. Wer arbeiten will, bekommt Teilzeit; wer investieren will, Formularstapel; wer etwas verändern will, eine Arbeitsgruppe. Im Hintergrund knirscht die Demografie, und die Pensionslogik betet unbeirrt ihren Katechismus: mehr Anspruch, weniger Beitrag, ewige Ruhe.
Schumpeter definierte Kapitalismus als Prozess „schöpferischer Zerstörung“. Hierzulande vermeiden wir beides: das Schöpferische und die Zerstörung. Wir schützen das Gestern, bis es von selbst zerfällt, und taufen den Scherbenhaufen „Stabilität“! Politik als Trauerarbeit am lebenden System: man schminkt, statt zu operieren, und nennt das Ergebnis „Sozialpartnerschaft“.
Für all das hat die Regierung ein Wort: „verhalten“. Ein weiches Wort, das den Schweißgeruch der Angst schluckt. Verhaltenes Wachstum, verhaltene Reformen, verhaltene Erwartungen. Wer so redet, will nichts entscheiden. Wer nichts entscheidet, entscheidet für den Stillstand. Und Stillstand ist nur die hübsche Schwester der Rezession.
Was wäre zu tun? Keine Beruhigungspillen in Form von Prozentchen, sondern Fleiß, Mut, Ordnung: ein Pensionssystem, das länger Arbeiten belohnt; eine Arbeitsmarktpolitik, die Vollzeit ermöglicht und Qualifikation nicht als Sonntagsrede behandelt; Investitionen in Produktivität, nicht in Presseaussendungen. Kurz: Schluss mit Sedierung.
Bis dahin bleibt die österreichische Lösung: Wir erhöhen, wir erklären viel, wir hoffen auf ein Wunder. Bleibt es aus, erhöhen wir wieder und schlafen weiter. Die Versuchsstation funktioniert – der Patient nicht.
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