Kommentar: Blümel erklärt, was Kurz hinterlässt
Zürich versteht man in Vorarlberg oft leichter als in Wien. Gernot Blümel hat in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom Freitag einen klugen Essay vorgelegt: präzise, gelassen – bemerkenswert für einen Politiker. Vorweg eine Unpopularität: Blümel war unter Kanzler Kurz einer der unterschätzten Köpfe. Klüger und wissender als die meisten; diese Einschätzung teilen wenige mit mir, öffentlich zum Beispiel Sepp Schellhorn.
Worum geht’s? Der ehemalige Finanzminister sucht die Ursachen der wachsenden Polarisierung in liberalen Rechtsstaaten und nennt drei Treiber. Erstens „starke Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen“. Zweitens „Selbstlähmung durch Regulierungslast“. Drittens – „die vielleicht tiefgreifendste Ursache“ – „die postmoderne Wertevernichtung“: in der „veröffentlichten Meinung“ habe sich eine Geisteshaltung verbreitet, die „wesentliche Grundpfeiler des westlichen Selbstverständnisses systematisch in Zweifel“ ziehe. „Der Staat, die Familie, die traditionelle Moral, selbst die Wissenschaft werden dem Verdacht ausgesetzt, ihre Geltungsansprüche seien nur verschleierte Machtansprüche.“
Die Pointe: Ausgerechnet die Ära, der Blümel angehörte, hat diesen „Verdacht“ präzise in diesen Gebieten bis zur Beweiskraft genährt. Der Staat? Sebastian Kurz regierte nach Umfragekurven; Politik wurde zur Technik der Wählermaximierung. Wer so handelt, bestätigt den Eindruck, staatliche Ansprüche seien getarnte Machterhaltung. Die Familie? Als Schlagwort laut, als Politik dünn. Das traditionelle Modell diente als Kontrapunkt zu Liberalität und „Wokeness“, ohne dass der Kanzler selbst im Paradebild der Kleinfamilie lebte. Die Moral? Sie wurde zur Folie der Abgrenzung – nützlich gegenüber muslimischer Zuwanderung, selten mit konsistenter ethischer Architektur hinterlegt. Und die Wissenschaft? In der Pandemie wurde Expertise zum Störgeräusch; bis zu dem Punkt, als die Regierungsspitze deklarierte, man müsse nicht warten, bis Forschende die Entscheidungen sachlich unterlegten. Wer so spricht, sät Misstrauen in genau jene Instanz, die uns aus Krisen herausführen soll.
Gerade deshalb lohnt der Text: Blümel diagnostiziert präzise – und rechnet implizit mit der eigenen Regierungszeit ab. Er hat recht, wenn er Regulierung als Selbstlähmung beschreibt. Aber die Antwort ist nicht eine Deregulierungs-Oper wie die öffentlichkeitswirksame Zusammenlegung von Krankenkassen, sondern eine nüchterne Inventur: Welche Regeln schützen Freiheit, welche simulieren sie? Er hat recht, wenn er „Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen“ als Herausforderung benennt. Doch Kulturkampf erklärt wenig; entscheidend sind Rechtssicherheit, schnelle Verfahren, Integration über Sprache, Arbeit, Stadtplanung. Und er hat recht, wenn er die „postmoderne Wertevernichtung“ untersucht. Aber Werte entstehen nicht aus Populismus, sondern aus Praxis: aus Institutionen, die sich erklären, aus Verfahren, die fair sind, aus Politik, die belastbare Gründe nennt und nicht nur Zielgruppen kennt.
Wer Polarisierung ernst nimmt, muss Institutionen wieder so führen, dass sie mehr sind als Bühnen. Verwaltung ist keine mit Message Control gelenkte PR-Abteilung. Familienpolitik ist Betreuung, Bildung, Gleichstellung – nicht Sonntagsprosa. Moral ist keine Waffe. Wissenschaft ist kein Buffet, von dem man nur die Häppchen nimmt, die gerade passen. Migration ist gestaltbar und durchsetzbar – mit klaren Zumutungen und klaren Angeboten.
Blümels Zürcher Intervention ist lesenswert, weil sie richtige Fragen stellt. Sie wäre stärker, würde sie offen buchstabieren, was aus eigener Erfahrung zu lernen ist: dass Machtspiele wie jene der Regierung, der er angehörte, die Ordnung aushöhlen, die man zu verteidigen vorgibt.
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