Kommentar: Chance für Europa
Die diplomatischen Turbulenzen rund um einen möglichen Friedensvertrag für die Ukraine machen Europas geopolitisches Dilemma sichtbar. Verhandelt haben zuerst die USA und Russland, dann erst wurden die EU, Großbritannien und auch die Ukraine einbezogen. Auch China will gehört werden. Ein von allen Parteien akzeptierter Friedensplan scheint derzeit in weiter Ferne.
Die EU tut sich mit einer klaren Positionierung schwer, gibt es doch Mitgliedsstaaten, die sogar dem ursprünglichen Trump-Plan zustimmen wollten. Die Mehrstimmigkeit schwächt den „Alten Kontinent“ massiv. Zudem gibt es kaum Stimmen mit politischem Gewicht, die einen Weg aus dieser schwierigen Situation weisen würden.
Immerhin hat mit Jürgen Habermas letzte Woche ein Philosoph bei einem Vortrag in München und in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung („Von hier an müssen wir alleine gehen“) die Richtung gewiesen: Wir brauchen mehr Europa!
China, Russland und zuletzt sogar die USA sehen in den liberalen Demokratien Europas Auslaufmodelle. Die drei Weltmächte sind oder entwickeln sich zu autoritären Regimen. Völkerrecht? Egal. Menschenrechte? Das war einmal. Und auch in Europa sind die Feinde einer offenen Gesellschaft im Aufwind.
Diese Entwicklung hat sich schon länger angebahnt. Die Bevölkerung in den USA ist seit dem 11. September 2001 tief verunsichert. Die einstige Supermacht hat seither zunehmend an Einfluss verloren. Das Ergebnis ist ein großspurig auftretender Politiker wie Trump mit seiner unberechenbaren Politik. Seither sind die USA kein verlässlicher Partner mehr.
Auf diese Entwicklung muss die wirtschaftliche Großmacht EU eine Antwort finden. Die kann nur darin bestehen, die politische Einigung voranzutreiben. Und dies im Gegensatz zu den drei genannten Mächten unter Beibehaltung menschen- und völkerrechtlicher Prinzipien.
Allerdings sind neben den Rechtspopulisten vor allem die jüngeren EU-Mitglieder in Osteuropa ein Hemmschuh für so eine Entwicklung. Diese Länder sind zwar die vehementesten Befürworter einer massiven Aufrüstung aller Mitgliedsländer, gleichzeitig aber am wenigstens bereit, ihre „nationalstaatlichen Verfügungsgewalten“ zugunsten eines starken Europa einzuschränken.
Das wird sich so nicht ausgehen. Daher wurde schon vor Jahren die Idee eines „Kerneuropa“ diskutiert. Begeisterung für Europa wäre auch eine Chance, dem zunehmenden Nationalismus und Rechtspopulismus etwas entgegenzusetzen. Auch Österreich wird Farbe bekennen müssen: mitgestalten und Mitglied dieses „Kerneuropa“ sein oder die Entwicklung von der Seitenlinie aus betrachten?
Habermas mit seinen 96 Jahren sieht und beschreibt die Herausforderungen klar. Fehlt nur noch, dass auch die politisch Verantwortlichen die Notwendigkeiten erkennen.
Harald Walser ist Historiker, ehemaliger Abgeordneter zum Nationalrat (Die Grünen) und AHS-Direktor.
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