Kommentar: Politische Feigheit
Ein dreiviertel Jahr ist die Dreierkoalition im Amt. Sie hatte versprochen: Budgetsanierung, Teuerungsbekämpfung und Wirtschaftswachstum. Darauf warten wir nach vor. Das führt zur Frage, warum Politiker (m/w) gar so mutlos bei Reformen sind. Darüber, über die Feigheit, hat die renommierte Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner einen Essay geschrieben („Feigheit“, Verlag ecoWing). Kastner meint sinngemäß, auch in einer Interviewserie nach Erscheinen des Buchs, dass Politiker Reformen aus Angst vor Machtverlust und vor Fehlentscheidungen verschleppen. Oder die Vorgängerregierungen sind schuld. Oder man duckt sich bei Skandalen weg und reagiert erst, wenn der öffentliche Druck es erzwingt. Als sie das schrieb, kannte Kastner die Peinlichkeiten des nur unter Druck zurückgetretenen WKO-Chefs Mahrer noch nicht oder den versuchten Postenschacher des Augst Wöginger, für dessen Rücktritt der öffentliche Druck offenbar noch zu gering ist oder die ÖVP nicht merkt, dass ihre Stimmenverluste auch mit Wöginger zusammenhängen. Für Kastner heißt Mut in der Politik: Wahrheiten aussprechen und Verantwortung übernehmen, auch gegen Widerstand. Vieles sei Symbolpolitik, also Handlungen ohne echte Wirkung, die öffentlichkeitswirksam als Problemlösung verkauft werden. Man denke nur an die seit Monaten am Köcheln gehaltene Diskussion über das Kopftuchverbot.
Kastner bezieht klar Stellung. Wokeness (also eine Haltung der Wachsamkeit) sei ursprünglich wichtig gewesen, gegen Ungerechtigkeiten oder Ungleichbehandlung. Jetzt sei Wokeness zu einer Religion geworden und zu einer fanatischen Bewegung, deren Vertreter sich moralisch erhaben fühlen. Auch bei der Migration spricht Kastner von Feigheit, „unerfreuliche Sachverhalte wie den überproportional hohen Anteil nicht-österreichischer und von Nicht-EU-Bürgern an der Gesamtzahl der österreichischen Häftlinge zu verschweigen“. Weil man sich Versäumnisse in der Vergangenheit nicht eingestehen will, treibe man die Menschen in die Arme von radikal populistischen Gruppierungen, die sich mit brutalen Formulierungen und billigen Rezepten präsentieren und nicht davor zurückscheuen, auf den Anstand zu pfeifen. Sie nennte keine Namen oder Parteien, aber man weiß, was gemeint ist. Sie zitiert die Imamin Seyran Ates, die die Parallelgesellschaften bei den Medientagen 2024 in Lech als größte innerstaatliche Bedrohung Europas gesehen hat. Über diese Gesellschaften dürfe man nicht sprechen, weil man das als fremdenfeindlich bezeichne. Auch in Österreich fehle der politische Wille, eine striktere Integrationspolitik umzusetzen: „Die Regierungen sind gegenüber Intoleranten zu tolerant, um sich nicht die Finger zu verbrennen“. Der Begriff Toleranz sei bisweilen ganz einfach ein Synonym für Feigheit.
Dem Anstand misst Kastner überhaupt große Bedeutung bei. Die Unanständigkeit sei politisch salonfähig geworden. Der Sprachgebrauch von Kickl oder Trump hätte vor 30 Jahren noch zu einer Form von sozialer Ächtung geführt. Ein anständiger Mensch hätte das nicht gemacht, wäre nicht so überheblich und herabwürdigend gewesen, nicht so untergriffig.
Da kannte sie den Satz von Donald Trump noch nicht („Quiet, Piggy“ zu einer Reporterin – also: schweig, Schweinchen). Darüber regt sich offenbar niemand mehr auf. Kastner fordert Zivilcourage als Gegensatz zur Feigheit und von der Politik, dass es altgedienten Parteien „drei Meter über der Erde mit beiden Beinen fest auf dem Boden ihres Machterhalt-Luftschlosses“ wenig nutze, sich inhaltlich an jene anzubiedern, die die Stimmung in der Bevölkerung „riechen“. Der Nachahmer sei immer der Zweite. Ich bezweifle, ob es bei den Adressaten (m/w) ankommt.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
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