Dramatischer Wahltag für die ehemaligen Großparteien

Politisches Erdbeben für SPÖ und ÖVP. Sie können nicht zur Tagesordnung übergehen.
Wien. Ein politisches Erdbeben, eine Absage an das politische Establishment, eine Protestwahl gegen die Regierungsparteien ÖVP und SPÖ. So lässt sich das Ergebnis der Bundespräsidentschaftswahl für die Bundeskoalition zusammenfassen.
Während die Kandidaten der Volkspartei und der Sozialdemokratie sich bisher in der Hofburg abwechselten und gemeinsam meistens rund 80 Prozent der Zustimmung hatten, stürzten sie am Sonntag auf gut 22 Prozent ab. „Die Regierung hat damit ein Stück eigener Legitimität verloren“, analysiert Politberater Thomas Hofer für die VN. Jetzt könnten SPÖ und ÖVP nicht mehr so einfach zur Tagesordnung übergehen, wenngleich es nicht die erste Wahlniederlage gewesen ist, die die Parteien wachrütteln hätte sollen. „Dass die Koalition ihre Lehren daraus zieht, ist jetzt notwendiger denn je“, meint der Experte. Phrasen von einem Neustart und einem Strategiewechsel seien dafür nicht genug. In beiden Parteien ist es relativ wahrscheinlich geworden, dass sie mit einer neuen personellen Aufstellung in die nächste Nationalratswahl gehen. Allerdings werden die Regierungsparteien sich angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse vor einer Neuwahl hüten.
Nicht ganz so fest im Sattel
Dass Parteichef Reinhold Mitterlehner in den nächsten Wochen als ÖVP-Obmann gestürzt wird, sei nicht sehr wahrscheinlich – außer er trete selbst zurück, meint Thomas Hofer. Dies allerdings hat Mitterlehner am Sonntag bereits zurückgewiesen. Der weiterhin als Hoffnungsträger der ÖVP gehandelte Außenminister Sebastian Kurz werde frühestens knapp vor der nächsten Nationalratswahl als Spitzenkandidat eingesetzt. In der heutigen Lage übernehme er diese Position bestimmt nicht. „Kurz ist ja kein politischer Selbstmörder“, sagt der Politikexperte. Für den Tiroler Landeshauptmann Günter Platter (ÖVP) ist das Ergebnis eine klare Forderung nach dem Ende des politischen Stillstands in der Republik. Die Schuld dafür sieht er bei der SPÖ. Der steirische ÖVP-Chef Hermann Schützenhöfer ortet ein allerletztes Alarmsignal.
In der Sozialdemokratie sitzt Kanzler Werner Faymann (SPÖ) noch im Sattel. Allerdings etwas unsicherer als Mitterlehner. Er muss sich im November dem Bundesparteitag stellen. Ob es dort zu einer Revolte kommt, hängt davon ab, wie die Landesorganisationen reagieren. Auch die Gewerkschaft spielt hier eine gewichtige Rolle. In Wien formiert sich bereits seit Längerem ein Widerstand gegen den Kanzler. Vor allem die Flüchtlingspolitik entzweit die Partei. Angesichts der Dramatik der Ergebnisse sei es schwer, keine deftige Wortwahl zu finden, erklärte der Wiener Bürgermeister Michael Häupl. Die Wahl sei eine Systemkritik gewesen. Konsequenzen werde es geben, aber keine personellen, sagte er. Vielleicht müsse man sich aus der Umklammerung der Bundesregierung lösen und als Option die Oppositionsrolle überlegen, meinte der steirische SPÖ-Chef Michael Schickhofer. Der Vorarlberger SPÖ-Obmann Michael Ritsch erinnerte an seine Forderung nach einer Rot-Grün-Neos-Koalition im Jahr 2013. Am Sonntag sah er sich darin bestätigt.
Laut Politikberater Hofer ist die Koalition bei dem Versuch gescheitert, ihre Wähler zurückzugewinnen, indem sie sich von der FPÖ-Agenda leiten ließ. Es sei nun an der Zeit, dass SPÖ und ÖVP wieder eine eigene Linie finden. Die Wahl zeige, dass 80 Prozent der Österreicher das aktuelle System ablehnen und für reformbedürftig halten.
