Übertragungslernen

Sport / 31.05.2020 • 09:30 Uhr

Im Sport spricht man vom Transfereffekt, wenn bereits eingeübte Abläufe einer Sportart das Erlernen einer anderen Disziplin aufgrund der Ähnlichkeit erleichtern. Eisläufer stellen sich beim Langlaufen in der Skating-Technik sofort geschickt an, gute Tennisspieler erzielen beim Squash gleich erstaunlich schnelle Fortschritte, Eishockeycracks treffen den Golfball meist auf Anhieb überraschend satt, Alpinschifahrer zeigen ein tolles Timing und Gleichgewicht beim Skispringen.

„Manche Wirkungen werden tief drinnen eine Zeitlang nachschwingen, um dann zu verblassen.“

Manches davon passiert, weil die Herausforderungen ähnlich strukturiert und hilfreiche Lösungs- und Steuerungsprozesse in unterschiedlicher Ausprägung schon in der Ursprungssportart geschärft und automatisiert wurden. Ganze Muskelschlingen und Wahrnehmungsschleifen sind schon bestens auf die zu erlernende Aufgabe vorbereitet und manches lässt sich spielerisch übertragen. Manche Transfers vollziehen sich ohne unser bewusstes Zutun, so wie ein Schlüssel eben ins Schloss passt, aber eben nicht alle.

Alte Gewohnheiten

Vor allem wenn es um Umstellungen von längst Gewohntem geht, passiert das Gegenteil: Das Hinüber-Retten von zarten neuen Erfahrungen, Entdeckungen und Abläufen muss bewusst und konsequent kultiviert und angestrebt werden. Sonst passiert nämlich genau gar nichts bzw. es bleibt alles beim Alten. Allzu leicht rutschen wir sofort wieder in alte Gewohnheiten. Der Sog des Automatisierten ist vor allem unter Druck fast unwiderstehlich. Wenn sich z. B. ein vom Tischtennis geprägter Quereinsteiger beim Tennis nicht für die Feinheiten der neuen Sportart öffnen kann und stattdessen alles mit seinem Tennisgefühl lösen will, bleibt seine Entwicklung stecken.
Dürfen wir als Einzelne und als Gesellschaft, die sich über die langsam zurückkehrenden Freiheitsgrade freuen, auf positive Transfereffekte aus den gemachten Shut-Down-Erfahrungen hoffen? Achtsamkeit, Rücksichtnahme, Dankbarkeit für einfache Dinge, ein respektvollerer Bezug zur Natur und zum Gegenüber, gestiegene Loyalität . . .?

Auch Vorsätze trainieren

Es dürfte ähnlich sein wie im Sport: Manche Wirkungen werden tief drinnen eine Zeitlang nachschwingen, um dann zu verblassen. Wenn wir den Transfer nicht persönlich und ganz bewusst anstreben und konsequent zu neuen Gewohnheiten prägen wollen, dann hat uns die Dynamik des Alltags und des Gewohnten sehr schnell wieder. So ist es nun mal mit den meisten guten Vorsätzen wie im Sport: Wenn sie nicht trainiert, bewusst eingeübt und stabil gemacht werden, dann bleibt wenig über und bald verblasst sogar die Erinnerung daran, was man ändern wollte.