Die Lockdowns aus der Sicht einer Wahlschwedin

Welt / 14.06.2020 • 11:05 Uhr
Die Lockdowns aus der Sicht einer Wahlschwedin
Alina Lingnau ist froh, dass sie die Pandemie in Schweden ausstehen kann.

Alina Lingnau (33) lebt seit zehn Jahren in Stockholm. Die Lockdowns in Europa erstaunten die meisten Schweden, sagt sie.

Stockholm Im 10-Millionen-Einwohnerland Schweden starben bislang knapp 4500 Menschen am Coronavirus. „Die Hälfte der Toten sind Altersheimbewohner. 90 Prozent der Verstorbenen waren über 70 Jahre alt“, weiß Alina Lingnau. Die 33-jährige Deutsche lebt seit zehn Jahren in Stockholm. Die studierte Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin arbeitet in der Marketing-Abteilung der technischen Universität in Stockholm.

In ihrer Wahlheimat sei man sich einig, dass man es nicht geschafft habe, die älteren Mitbürger vor dem Virus zu schützen. „Die Opposition kritisiert jetzt die Regierung, dass sie zu wenig hart durchgegriffen hat in der Corona-Krise.“ Das skandinavische EU-Land hatte deutlich freizügigere Maßnahmen ergriffen als der Rest Europas. Schulen, Restaurants und Geschäfte wurden beispielsweise niemals geschlossen. Die Grenzen waren für EU-Bürger immer offen. Im Land selbst wurden so gut wie keine Verbote erlassen. Vielmehr setzte man auf die Eigenverantwortung der Bürger. „Die Gesundheitsbehörde sprach Empfehlungen aus, wie man sich verhalten soll. Die große Mehrheit der Schweden hielt sich daran. Rückblickend sind wir stolz darauf, dass es keine Verbote brauchte und jeder einzelne von uns Verantwortung übernommen hat.“

„Nach meinem Empfinden gab es keine Angstmache.“

Alina Lingnau, Wahlschwedin

Die Gastronomie und der Tourismus verzeichneten Einbußen, weil die Schweden ihre Lebensweise veränderten, vermehrt zu Hause blieben und kaum noch reisten. Der Einbruch der globalen Wirtschaft bekam auch das Exportland Schweden zu spüren. „Viele Firmen haben Kurzarbeit eingeführt oder Mitarbeiter entlassen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg gegenüber dem Vorjahr um 1,5 Prozent auf 8,3 Prozent an.“

Als die Pandemie Schweden erreichte, habe die Regierung den Ernst der Lage betont. „Aber uns wurde auch gesagt, dass das Virus für die meisten ungefährlich sei.“ Angst vor dem Coronavirus sei weder vonseiten der Regierung noch vonseiten der Medien geschürt worden. „Nach meinem Empfinden gab es keine Angstmache.“

„Maßnahmen waren politisch motiviert“

Lingnau betont, dass die Lockdowns in den anderen Ländern die meisten Schweden überraschten und erstaunten. „Wir wunderten uns, dass man in Europa so weit ging und zu derart drastischen Maßnahmen wie Grenz- und Schulschließungen und Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte griff.“ Bei Lingnau und vielen anderen kam die Vermutung auf, dass diese rigorosen Maßnahmen politisch motiviert waren und keine wissenschaftliche Grundlage hatten. Der schwedischen Regierung hält sie zugute, „dass sie die Corona-Krise nicht ausgenutzt hat, um ihre Macht auszuweiten und zu missbrauchen“.

Die Auslandsdeutsche ist froh, dass sie die Pandemie in Schweden ausstehen kann, „weil bei uns immer ein gewisses Maß an Freiheit möglich gewesen ist“. Welche Strategie gegen die Seuche die richtige war, wird sich laut Lingnau vermutlich erst in einigen Jahren zeigen. „Dann weiß man auch, welche anderen Folgen die Pandemie verursacht hat, etwa ein Anstieg psychischer Erkrankungen.“