Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Alt sein

VN / 03.05.2023 • 08:00 Uhr

Ich sah eine alte Frau auf dem Zebrastreifen, wie sie sich mühte, eilig zu gehen, bevor die Ampel wieder rot würde. Schnell ging ich auf sie zu und wollte sie am Arm führen, dabei sagte ich leise, dass ich ihr behilflich sein will. Sie riss meinen Arm von sich weg, klammerte ihre Tasche an ihren Bauch und schrie. Ich war so erschrocken, dass ich nur stehenbleiben konnte. Längst wäre die Ampel wieder für die Autos bereit gewesen, aber weil wir zwei Frauen, die alte und die nicht so alte wie festgewurzelt standen, mussten auch sie stehen bleiben. Es wurde gehupt. Ein Mann stieg aus seinem Auto und bot uns seine Hilfe an.

Ich gebe zu, das war ein Schock für mich. Selber schon alt, sollte ich es nicht wagen, einer noch älteren Person meine Hilfe anzubieten.

Uns Kindern wurde gelehrt, dass die Höflichkeit ein unabdingbares Gebot sei. Das hieß, gleich vom Sitz im Bus oder Zug aufzuspringen, wenn ein älterer Mensch einen Platz suchte.

Selber schon alt, sollte ich es nicht wagen, einer noch älteren Person meine Hilfe anzubieten.“

Kürzlich fuhr ich mit dem Railjet nach Wien, und in Feldkirch hieß es, ein Zug in der Schweiz sei ausgefallen, deshalb würden in einem Zug Menschen aus zwei befördert. Die Leute standen eng aneinander, der Schaffner versuchte erst gar nicht durchzukommen. Alle Sitze waren besetzt. Koffer versperrten den Weg. Ich kam vor einem Abteil zu stehen, und darin saßen zwei Erwachsene und zwei Kinder. Ich schaute eindringlich in die Augen der Erwachsenen, sie waren so um die vierzig, in die Augen der Kinder, es hätte heißen sollten: Kann mir einer von euch vieren seinen Platz anbieten, oder kann ein Elternteil eines der Kinder auffordern, aufzustehen und mir den Platz anzubieten. Ich saß auf meinem schiefen Koffer, mein linkes Knie tat mir weh, als hätte ich kniend Tage schon in der Kirche verbracht. Hinter und vor mir saßen Menschen und ignorierten die Stehenden. Ich war nach vier Stunden so frustriert, dass ich einen Halbwüchsigen, der in sein Handy starrte, fragte, wohin seine Reise gehe.
„Nach Wien“, sagte er.
„Wie ich“, sagte ich und wartete, dass er mir seinen Platz überließ. Er starrte weiter in sein Handy.
Ich fragte. „Könnten Sie sich vorstellen, mir Ihren Platz für eine Stunde zu überlassen, ich kann kaum mehr stehen.“
„Nein“, sagte er, „das kann ich mir nicht vorstellen.“

Das hörte ein alter Herr, der sprang sogleich auf und bot mir seinen Sitz an. Er schlug dem Jugendlichen auf die Schulter und sagte:
„Schäm dich, Rotzlöffel, vermaledeiter!“

Der Rotzlöffel kannte das zweite Wort nicht. Nicht einmal gegoogelt hat er es.

Jetzt war ich die mit dem schlechten Gewissen. Aber ich ließ mich erleichtert auf den Sitz fallen. Und bedankte mich.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.