Der Krieg bleibt immer im Kopf

Rashid Hassan weiß, es wird noch lange dauern, bis er seine Eltern wiedersehen kann.
LUSTENAU Die Entscheidung, Syrien zu verlassen, ist Rashid Hassan sehr schwergefallen. Er hatte keine Wahl. Er hätte töten müssen. Das wollte, konnte er nicht tun. Um nicht dazu gezwungen zu werden, flüchtete er. „Wer Krieg nicht erlebt hat, weiß nicht, wie sich Krieg anfühlt“, sagt der 40-jährige Kurde aus Syrien und lässt sich auf dem Sofa im Wohnzimmer nieder. Seine Frau stellt auf traditionelle Art zubereiteten Kaffee und einen Teller mit selbstgebackenen Keksen auf den Beistelltisch.
„Es ging mir gut in Syrien“, beginnt Rashid zu erzählen. „Ich hatte einen eigenen Frisiersalon.“ Bis im März 2011 der Bürgerkrieg anfing, sich rasch ausbreitete und schließlich auch Afrin erreichte.

In Afrin, einer mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt im Nordwesten Syriens nahe Aleppo, kommt Rashid Hassan 1983 zur Welt. Er wächst als mittleres von insgesamt neun Kindern auf. Der Vater arbeitet in einer Möbelfabrik, die Mutter zieht die Kinder groß. Rashid absolviert die neunjährige Grundschule, lernt das Schneiderhandwerk, leistet den Militärdienst ab, wird danach Friseur und macht einen Salon auf. „Als der Krieg begonnen hat, dachten alle, in einem, vielleicht zwei Jahren ist er vorbei“, erinnert sich Rashid. Irrtum. Die Jahre vergehen, der Syrienkrieg dauert an. Das Land zerfällt in mehrere Gebiete, die entweder von Assads Regierungsarmee, Oppositionsgruppen, kurdischen Volksver-teidigungseinheiten oder dem IS (Islamischer Staat) kontrolliert werden. Von außen mischen zu jenem Zeitpunkt die USA, Russland, Iran und die Türkei mit. Rashid ist mittlerweile klargeworden, „wenn ich bleibe, muss ich eine Waffe in die Hand nehmen und Menschen erschießen“. Das tut er ganz sicher nicht. 2015 beschließen er und seine Frau, die er im Jahr zuvor geheiratet hatte, zu flüchten. „Besonders schwierig war das für unsere Eltern“, sagt er, „aber eine andere Lösung gab es für uns nicht.”
Beschwerliche Flucht
An einem Tag Anfang Juni 2015 verlässt das Ehepaar Hassan Syrien. Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen schaffen es die Hassans über die grüne Grenze in die Türkei. Zehn Tage später klettern sie in einer Bucht bei Izmir in ein Schlauchboot, in dem schon an die 30 andere Personen kauern. Kurz nach sechs Uhr früh tuckert das überfüllte Boot los in Richtung Griechenland und legt etwa zwei Stunden später am Ufer einer griechischen Insel an. Die weitere Fluchtroute führt die Hassans durch mehrere Länder und Grenzen, bis sie in Österreich ankommen. Am 24. Juni 2015 werden sie ins Aufnahmezentrum Traiskirchen gebracht. Drei Wochen später finden sie in der niederösterreichischen Gemeinde Himberg eine Bleibe und stellen von dort aus den Asylantrag. Innerhalb von drei Monaten besitzen sie den Konventionsflüchtlingspass. „Einer meiner Brüder, der seit längerer Zeit in Lustenau lebte, holte uns nach Vorarlberg“, berichtet Rashid. „Zuerst haben wir bei ihm gelebt. Dann zogen wir in eine private Wohnung.“ 2019 muss die Familie – 2016 hat sich eine Tochter dazugesellt – ausziehen. Nach acht Monaten ohne eigenes Zuhause zieht sie 2020 in diese Gemeindewohnung ein.

Wie für fast jeden Geflüchteten, ist auch für Rashid das Erlernen der deutschen Sprache die größte Hürde beim Eingewöhnen in der neuen, fremden Heimat. Das Schwierigste sei das Verstehen der unterschiedlichen Dialekte, bekennt er. „Aber ich lerne jeden Tag mehr neue Wörter und Begriffe.“
Beruflich orientiert sich Rashid auch hier an der Figaro-Branche. 2018 beginnt er eine Friseurlehre in einem DM-Studio. Aufgrund des damaligen Sprachdefizits gibt er nach sechs Monaten Job und Berufsschule auf. Im Jahr darauf wird er vom AMS benachrichtigt, dass der Herrenfriseur Barberia in Hard eine Stelle ausgeschrieben hat. „Seitdem arbeite ich dort.“ In Vorarlberg hat Rashid ein neues Zuhause gefunden. Er fühlt sich wohl hier und möchte mit seiner Familie dableiben. „Ich bedanke mich bei den Österreichern für die Aufnahme und die Chance, die ich hier bekommen habe“, will er unbedingt noch anbringen.

Sehnsucht nach der Familie
Das mit dem Heimweh ist so eine Sache: Rashid vermisst seine Eltern und Geschwister, die noch in Afrin leben. Er weiß aber, dass er sie noch lange nicht wiedersehen kann, weil der Krieg noch lange dauern wird. Ihn selber hat die Flucht so stark geprägt, dass er niemals auch nur einen Moment davon vergessen kann: „Denn der Krieg bleibt im Kopf. Immer.“ HRJ
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