Thomas Matt

Kommentar

Thomas Matt

Diagnose: kritisch

VN / 04.02.2025 • 14:37 Uhr

Meine Sehkraft lässt nach. Nur noch schemenhaft erkenne ich die Umrisse meiner Liebsten, die schweigend das Thermometer schüttelt. Der Taschentuchberg neben dem Bett wächst rasant. Meine Nase läuft wie ein undichter Wasserhahn. Meine Stimme klingt wie die eines pubertierenden Papageis im Stimmbruch.

Nur Mamas Hühnersuppe könnte jetzt noch helfen. Und das große Pflaster vielleicht mit dem Teddybär drauf. Aber Mama ist nicht mehr da, und meine Frau lässt die Augen rollen, was ich trotz meiner schwindenden Sehkraft noch wahrnehme. Wortlos stellt sie heißen Ingwertee ans Bett und wendet sich wieder dem Haushalt zu. So viel zum Mitgefühl für jemanden, der seine letzten Stunden zählt!

Gut, sie ist selbst erst genesen. Das stimmt nicht ganz. Sie hustet noch. Das hindert sie freilich nicht daran, schon wieder fünf Dinge gleichzeitig zu tun. Ist irgendwie anders gebaut. Zwischen zwei Trompetenstößen finde ich die Fernbedienung. Im Fernsehen zeigen sie eine Reportage über die großen Seuchen der Menschheit: die Cholera, die Spanische Grippe, Corona. Ein letztes Röcheln, und ich sinke erschöpft in die Kissen zurück. Da zieht meine Frau mit spitzen Fingern das Thermometer aus meiner Achselhöhle. „37,2“, murmelt sie und geht kopfschüttelnd lächelnd ihrer Wege. Wie, 37,2? Jetzt ist mein Gehör also auch schon betroffen. Das Ende naht!