Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Kommentar: Verloren zwischen tausend Möglichkeiten

VN / 04.08.2025 • 16:16 Uhr

Manche Frauen, die in das Nagelstudio im Wiener Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus kamen, ließen sich nicht nur bunte Sommernägel machen, sondern ihre Körper mit Botox, Fillern oder „Fett-weg-Spritzen“ behandeln – von Personen ohne jede medizinische Ausbildung. Am vergangenen Samstag wurde in Wien bereits die dritte illegale Schönheitsklinik innerhalb kurzer Zeit von den Behörden aufgedeckt. Man hatte zuvor anonyme Hinweise von unzufriedenen Kundinnen bekommen und auch während des Einsatzes herrschte laut der Gruppe für Sofortmaßnahmen ein „reger Zustrom an Kundinnen“. Einige von ihnen waren da, weil sie vorherige Eingriffe korrigieren lassen wollten, mit deren Ergebnissen sie unzufrieden waren. Derzeit warnt die Stadt Wien sogar in einer eigenen Kampagne vor illegalen Schönheitseingriffen, auch einem Phänomen unserer Zeit.

Besonders anfällig dafür sind junge Menschen, die gerne besser, schöner, eine optimierte Version ihrer Selbst sein wollen, wie es ihnen auf Social Media vorgelebt wird. Sie sind die perfekten Opfer von Betrügerinnen und Scharlatanen, die vergleichsweise günstige Eingriffe im Hinterzimmer anbieten. Sich über die Jungen zu erheben, wie es manche gerne tun – wie verantwortungslos, gedankenlos, dumm kann man sein, nicht zu einer Fachärztin, einem Facharzt zu gehen? – ist keine Lösung für das tieferliegende Problem. Früher waren nicht alle Menschen klüger und es war nicht alles besser, die Welt war vor allem weniger kompliziert, langsamer und überschaubarer.

Fokus auf das Wesentliche

 Heute gibt es für junge Leute so viele Optionen, unter denen sie wählen können und müssen – sie sind verloren in der Welt der tausend Möglichkeiten, die sie durch ihre Unübersichtlichkeit in der Fokussierung auf das Wesentliche behindert: Was soll ich mit meinem Körper tun? Wie kann ich mit meinem Einkommen zurechtkommen? Wie kann ich ein Leben führen, das nicht zu stark von Social-Media-Plattformen beeinflusst wird? Denn auch wenn wir in westlichen Gesellschaften heute über mehr Bildung verfügen, sind wir damit für die Herausforderungen der Welt nicht ausreichend gerüstet.

 Schulen und Ausbildungsstätten übernehmen immer mehr Aufgaben, um junge Menschen für das Leben vorzubereiten und bei den Problemen des Heranwachsens zu unterstützen. Doch die Ressourcen dafür fehlen vielfach, berichten Lehrkräfte, ob es mehr Unterstützung durch Sozialarbeiterinnen oder Psychologen ist. In den Mühen des Alltags kann man sich dennoch die vier großen Grundfragen vor Augen halten, die der Aufklärer Immanuel Kant einst so formuliert hat: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Da sind Fragen, die alle betreffen, Jung und Alt.

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.