Streiflicht: Fatale Leseschwäche
Anfang der 1980er Jahre druckte man diese Zeitung noch in Blei. Riesige Maschinen gossen und setzten Buchstaben zu Zeilenblöcken. Mit ihren Hebeln und Schläuchen klapperten und fauchten sie wie Urzeitmonster. Man rang um jeden Satz, bevor er aufs Papier kam. Wenige schrieben, was viele lasen. Bedrucktes Papier sorgte für Gesprächsstoff und Druckerschwärze an den Fingerkuppen.
Heute publizieren alle. Smartphone-User sind ihre eigenen Chefredakteure. Nie war es so einfach. Aber heute empfinden viele das Lesen als Last. Bilder haben das Sagen. Sie zeigen, was geschah. Das Warum stünde im Text. Aber selbst Lehrende und Studenten scheitern an längeren Texten. Wird es in den Bibliotheken bald still werden, weil keiner mehr liest? Dann taugen Lessing und Goethe nurmehr fürs Kreuzworträtsel, ihre Büsten verstauben und Cafés geben iPads aus.
Ab heute suchen die Kardinäle einen neuen Papst. Für kurze Zeit fühlen wir uns alle sehr katholisch. Wir bestaunen das bunte Spektakel aus uralter Zeit, sehen im Internet weißen Rauch aufsteigen und gewinnen vielleicht eine Wette. Doch auch die Enzykliken des neuen Papstes werden den meisten zu mühsam ein. Heute und morgen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Während die Welt wieder Gefallen am großen Morden findet, unterhalten uns Bilder von Paraden. Es gäbe nachdenkliche, mahnende Texte, wie damals. Aber Lesen ist ja eine Last. Das war es für die Mehrheit wohl immer.
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