Kommentar: Mein Vorschlag in dieser kranken Zeit
Liebe Bürgermeisterinnen und Bürgermeister,
ich schreibe Ihnen, weil Sie für die Bürger zuständig sind, sei es in den Dörfern oder den Städten. Noch nie war es so dringend, sich der Menschen anzunehmen. In jeder Dorf- oder Stadtmitte gibt es ein Zentrum, um einen Brunnen oder um ein Kunstwerk, oder es gibt einen Park oder einen Platz vor einem historischen Gebäude. An solchen Orten sollte ein Denkmal für die KRÄNKUNG stehen. Ich stelle mir ein tiefes Loch vor, zugedeckt mit einer durchsichtigen Scheibe, in deren Mitte sich eine Einwurfspalte befindet, in der die Kränkungen eingeworfen werden können, die ein Mensch erlitten hat oder immer noch erleidet, die zuvor mit schwerem Herzen niedergeschrieben wurden. Da liegen sie nun unter den vielen anderen wie Wünsche, nur dass sie das Gegenteil von Wünschen sind. Ich sehe Menschen, die bei dem Denkmal anstehen, um ihre Kränkungen loszuwerden. Vom Kind bis zu Greis. Erniedrigte und Beleidigte. Dann kann vielleicht wieder frei geatmet werden. Schüler, die gemobbt werden, Kinder, die von ihren Eltern ungerecht behandelt wurden, Angestellte und Arbeiter, denen zu wenig Respekt entgegengebracht wird. Arme und Reiche, Staatsmänner und Philosophen, Christen, Moslems, Juden.
Ich sehe Menschen, die bei dem Denkmal anstehen, um ihre Kränkungen loszuwerden. Vom Kind bis zu Greis.
Ich möchte nicht, dass Sie mich für naiv halten, ich bin nämlich nicht naiv. Ich sehe so viele Gekränkte. Sind nicht schon viel zu viel Denkmäler für jene errichtet worden, die rücksichtslos Kränkungen ausgeteilt haben? „Ich bin nichts, und ich werde nie etwas sein“ – ist das nicht der schrecklichste Gedanke, der sich denken lässt? Nur ein Gedanke ist noch schrecklicher: „Ich bin nicht liebenswert.“ Und der schrecklichste Gedanke: „Wer nicht liebeswert ist, der ist auch nicht lebenswert.“ Und der allerschrecklichste Gedanke: „Ich werde es euch heimzahlen!“
Zeigen Sie mir einen Menschen, der nie in seinem Leben gekränkt worden ist! Jeder wird verstehen, dass der KRÄNKUNG ein Denkmal errichtet wird. Der Mensch ist nicht nur heroisch, und er soll nicht nur für sein Heldentum geehrt werden. Soll er denn nicht zuerst dafür geehrt werden, dass er ein Lebewesen ist, das man kränken kann? Er ist kein Holzstock. Das unterscheidet und von einem Holzstock.
Sehr geehrte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, lachen Sie mich nicht aus! Oder lachen Sie mich aus! Ich werde diese Kränkung aufschreiben und in die Einwurfspalte des Denkmals schieben, das Sie auf Ihrem Gemeindegebiet für die KRÄNKUNG errichten.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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