Kommentar: Der Feind

Ganz schön verfahren, die Weltlage. Wo soll man noch andocken, um seriöse Antworten zu finden. Frau Ammann empfiehlt, sich im Krisenwirrwar nicht von Infos erschlagen zu lassen. Und doch: manchmal trifft auch sie beim Hinterfragen auf eine Quelle, die den Blick in die Zukunft klarer macht. Zum Beispiel in die Nachkriegszukunft zwischen Europa und Russland. Der russische Journalist Andrey Gurkov könnte da ein Kompass sein. Geboren in Moskau, aufgewachsen in der DDR und nun seit dreißig Jahren in Köln lebend, kennt er die Facetten der Kulturen zwischen Ost und West genau. Er hat ein Buch geschrieben, das ernüchternde Einblicke ins Kommunikations-Dilemma gewährt. Frau Ammann hat es mir empfohlen. Sein Titel: “Für Russland ist Europa der Feind” und noch präziser der Untertitel: “Warum meine Heimat mit dem Westen gebrochen hat”.
Vorbei die Zeiten als der edle Gorbatschow uns an den guten Kern der russischen Seele gemahnen wollte oder als der Deutsche Bundestag 2001 friedenstrunken naiv eine Putin Rede mit Standing Ovations honorierte und Schröder mit seinem „Freund“ die Nord-Stream-Pipeline fixierte – da war des Diktators „Angst“ vor der Nato-Osterweiterung noch marginal, zumal er wusste, dass sämtliche Nato Staaten ihre Verteidigungsausgaben kürzten, während Russland massiv aufrüstete. Wieso sollte sich Putin da bedroht fühlen… fragt Gurkov. Er meint, man sollte die Osterweiterung eher als Fluchtreflex der ehemaligen Satellitenstaaten begreifen, die nicht noch einmal unter der Fuchtel einer russischen Besatzung leben wollten.
Er konzedierte dabei den Deutschen, eingedenk Hitlers Feldzug, „ein aufrichtiges Gefühl der historischen Schuld gegenüber, konkret, dem sowjetischen Volk“. Daraus erkläre er sich auch “die Empfänglichkeit gerade der Deutschen für die Erzählung des Kremls, Russland hätte sich durch die Nato-Osterweiterung immer mehr bedroht und eingekreist gefühlt.”
Dabei solle man allerdings nicht außer Acht lassen, “dass Russland diese Sorge erst laut bekundete, seit es als Energielieferant immer selbstbewusster wurde.” Gurkov beschreibt dabei Seiten lang seine Verwunderung, wie sich das russische Volk bis hinauf zur „Intelligenzija“ von der Kremlpropaganda auf Kurs bringen lassen und zu „einer spirituellen Mission“ ersteigen konnte, “die auch territoriale Expansion (also auch den Ukrainekrieg) rechtfertigt“ und die Feindbilder immer deutlicher formulierte: “Ein verhasstes Amerika und ein verachtetes Europa.”
Andrey Gurkov gehörte einst zu den hoffnungsfrohen Russen, die durch Perestroika tatsächlich eine Demokratie heraufdämmern sahen, sich aber bald schon entmutigt zurückziehen mussten, um sich in der Diaspora wiederzufinden.
Die „Gleichschaltung“ und ein imperialer Wahn, gleichsam kultisch religiös, sei in Russland „beängstigend“ geworden und selbst „die Kirche zum Kriegstreiber… im heiligen Krieg gegen den satanischen Westen“. In diesem Nebel noch Brücken zu finden, wird schwer werden.
Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.