Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Kommentar: Ein Moment des Wir-Gefühls

Politik / 25.08.2025 • 07:12 Uhr

Schon jetzt sind viele Wirtschaftstreibende enthusiasmiert, wenn sie an den Frühling 2026 in Wien denken: Das wird das Geschäft des Jahrzehnts! Vergangene Woche hat der ORF verkündet, dass der 70. Song Contest in der Bundeshauptstadt stattfinden wird. Die Großveranstaltung wird dabei nicht nur viel kosten, sondern kann nach Berechnungen noch weitaus mehr einbringen. Laut einer aktuellen Erhebung der wirtschaftsliberalen Denkfabrik ECO Austria im Auftrag des Wirtschaftsministeriums sollen die Gesamtkosten für die Austragung des internationalen Gesangswettbewerbs bei 36 Millionen Euro liegen, doch dieser Investition stünde ein „Nachfrageimpuls“ von 57 Millionen gegenüber. Solche Berechnungen werden das bei der Entscheidung um die Gastgeberstadt unterlegene Innsbruck wohl noch einmal ein wenig schmerzen.

Vor der Folie des Song Contests in der Wiener Stadthalle werden in den nächsten Monaten wohl diverse Veränderungen in der Stadt diskutiert werden. Walter Ruck, Präsident der Wiener Wirtschaftskammer, versucht jetzt zum Beispiel, die Sonntagsöffnung im Handel umzusetzen, über die man in Wien seit vielen Jahren streitet – der Song Contest mit seinem konsumfreudigen internationalen Publikum, das auch sonntags zum Shopping will, sei dafür ein zusätzlicher Anreiz, meint Ruck. Der Song Contest ist gerade heute allerdings mehr als ein Umsatzbringer, mehr als ein Schnulzenprogramm für Hedonisten und Hedonistinnen.

Schwestern und Brüder

Der Wettbewerb steht seit seinem Beginn 1956 für den Gedanken der friedlichen Völkerverständigung, und das kann man ja nur mehr von wenigen Events auf unserer Welt sagen. Zur Song-Contest-Zeit kommt ein gewisses Gefühl der Verbundenheit wieder zurück, jener Moment des Wir-Gefühls, der eine Veranstaltung erst zu etwas Besonderem macht. In Zeiten des Krieges in der Ukraine und im Nahen Osten stellt dieses „Wir“ eine Abwechslung von der bitteren Realität dar.

Das Großereignis als ein einziger Austauschklub für Freundschaftsarmbänder, alles Schwestern und Brüder in der Stadthalle und in den Fan-Zonen rund um den Song Contest, über alle Ländergrenzen hinweg – so einfach ist es aber leider nicht immer. Übertriebener Nationalstolz, Ressentiments oder die Abwertung der anderen, das kann bei solchen Wettbewerben eben auch teilweise hochkommen. Umso wichtiger ist es, schon im Vorfeld der Veranstaltung auf die Werte zu setzen, die Europa stark gemacht haben. Wie Ludwig van Beethoven es in seiner „Ode an die Freude“, die später zur Hymne der Europäischen Union wurde, geschrieben hat: „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt, alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.