Kolumne: Das Unglück des Taxifahrers

VN / 19.11.2025 • 07:07 Uhr
Kolumne: Das Unglück des Taxifahrers

Den Taxifahrer aus Wien kennen wir seit vielen Jahren. Er ist ein optimistischer Mann, höflich distanziert und immer guter Dinge. Bis auf den Tag am 12. Oktober. Da wurde er ein anderer. Ein verzweifelter Mann, der sich das Leben nehmen wollte. Er fuhr meinen Mann und mich zum Bahnhof, dabei erzählte er:

„Ich bin ein unbescholtener Mann, nie in meinem Leben habe ich Unrechtes getan. Ich habe eine gute Frau und gute Kinder, und selber bin ich auch rechtschaffen zu ihnen. Sie werden es jederzeit bestätigen. An diesem verhängnisvollen Vormittag winkte mich eine junge Frau zu sich. Ich blieb stehen und fragte, wohin sie eine Fahrt wünsche. Was mir an ihr auffiel, sie war so mager, wie ich es von Verhungerten kenne. Ich dachte, sie wolle ins Krankenhaus, aber sie nannte mir eine komplizierte Adresse, die ich nicht kannte. Das will etwas heißen, bin ich doch seit vierzig Jahren Taxifahrer in Wien und bilde mir ein, jede Ecke zu kennen. Ich kannte diese Ecke nicht. Ich schaute in mein Buch, und die Dame sagte, sie würde mich lenken, das finde nie jemand auf Anhieb, es sei versteckt in einer Seitengasse. Sie roch aus dem Mund, wie Leute, die lange nichts gegessen haben, auch nach Schnaps, um Himmelswillen, ich will ihr nicht Unrecht tun, aber so nahm ich es eben wahr. Also fuhr ich nach ihrer Anleitung, dachte mir im Stillen, sie wird die Fahrt nicht bezahlen können. Ich bin kein reicher Mann. Also fragte ich sie vorsichtig, ob sie die Fahrt auch bezahlen könne, sie würde an die fünfzig Euro ausmachen. Sie reagierte empört und sagte, diese Frage sei eine Frechheit. Sie hatte kein Gepäck bei sich, das fiel mir erst im Laufe der Fahrt auf, war viel zu leicht angezogen für diese Jahreszeit. Ein dünnes Kleid und keine Strümpfe. Wie im Sommer. Schlechte Schuhe. Ich fragte sie, ob sie denn nicht friere, und sie reagierte wieder empört und sagte, das würde mich wohl einen Scheißdreck angehen. Also war sie auch ordinär. Ich konzentrierte mich aufs Fahren, hatte aber ein ungutes Gefühl. Als meine Anzeige, bei 50 Euro stand, fragte ich sie, ob es noch weit sei. Sie riss die Tür auf und lief davon, ohne zu bezahlen. Wir standen außerhalb von Wien in einer Sackgasse. Sie zeigte mir ihren bösen Finger und schrie mir zu, dass ich von ihr hören werde. Ich war so verunsichert, drehte um, verzichtete ungern auf das Geld und fuhr zurück. Ich erzählte niemanden davon, ich weiß nicht warum, kann es mir nur so erklären, dass es mich im Nachhinein entsetzte. Ich bin ein gläubiger Mensch und dachte, und wenn sie vom Teufel geschickt worden ist, um mich zu verführen? Ich bin ein verbrauchter Mann von über siebzig Jahren.

Einen Tag später rief mich die Polizei an und berichtete mir, eine Frau habe mich wegen sexuellen Übergriffs angezeigt. Sie wussten alles über mich, hatten sich schon bei meinem Chef erkundigt, der gewiss nichts Schlechtes über mich sagen konnte. Ob ich auf die Polizeistation kommen solle, fragte ich, es gäbe da einiges richtigzustellen. Es sei nicht nötig, sagte der Polizist. So warte ich seit drei Wochen auf eine Benachrichtigung. Kann nicht mehr schlafen und mir ist danach, aus dem Fenster zu springen. Wir wohnen im vierten Stock. Was soll ich machen?“

Mein vernünftiger Mann riet ihm zu einer Gegenanzeige, er kenne einen Fall, in dem ein zu Unrecht Beschuldigter verurteilt wurde.

Wir ließen den armen Mann zurück und fuhren mit dem Zug nach Hause.

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.