Kommentar: Wenn Mehrarbeit zum Minusgeschäft wird

Wer heute in Österreich mehr arbeitet, erhöht nicht nur sein Einkommen, sondern vor allem seine Steuerlast. Das liegt an der Progression: Jede zusätzliche Stunde fällt oft in eine höhere Steuerstufe. Die erste verdiente Stunde wird also niedriger besteuert als die vierzigste. Damit wird Mehrarbeit netto immer weniger wert. Gleichzeitig können Förderungen wegfallen, weil sie an Einkommensgrenzen gekoppelt sind, und Betreuungskosten steigen, sobald die Arbeitszeit erhöht wird. Für viele Mütter bedeutet das: Mehrarbeit ist ein ökonomisches Risiko. Franz Schellhorn von Agenda Austria bringt es nüchtern auf den Punkt: Wer rechnen kann, arbeitet Teilzeit.
Die politische Erzählung, wonach mehr Kinderbetreuung automatisch zu mehr Vollzeit führt, hält einer Überprüfung nicht stand. Wien ist das beste Beispiel: flächendeckende Betreuung, aber eine Vollzeitquote, die beharrlich niedrig bleibt. Denn die Entscheidung fällt nicht im Kindergarten, sondern im Steuerrecht. Die Rechnung, die viele Familien machen, ist simpel und ernüchternd: Die zusätzliche Arbeitsstunde bringt kaum Mehrwert, aber spürbare Nachteile. Gleichzeitig wächst die spätere Pensionslücke zuverlässig mit.
Diese Fehlanreize haben Konsequenzen, die weit über individuelle Lebensentwürfe hinausgehen. Unternehmen suchen händeringend Fachkräfte, treffen jedoch auf Frauen, die rational kalkulieren und Mehrarbeit ablehnen. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus ökonomischer Vernunft. Der Staat verliert Produktivität und Steuereinnahmen. Und die Betroffenen zahlen im Alter den höchsten Preis: minimale Pensionen als Ergebnis eines Systems, das ihnen Vollzeit von Beginn an unattraktiv macht.
Ein modernes Erwerbssystem müsste anders funktionieren. Mehrarbeit sollte steuerlich begünstigt, nicht bestraft werden. Förderungen sollten so gestaltet sein, dass sie nicht bei jeder zusätzlichen Stunde kollabieren. Betreuungskosten müssen kalkulierbar bleiben und dürfen den Mehrverdienst nicht sofort absorbieren. Und ein Pensionssystem, das Betreuungszeiten fair berücksichtigt, ist keine Wohltat, sondern wirtschaftliche Notwendigkeit.
Es geht nicht um Moral, sondern um Mathematik. Solange Mehrarbeit für Mütter ein Risiko bleibt, wird sich die Vollzeitquote nicht erhöhen. Die Politik kann noch so viele Appelle formulieren: Solange das System die Anstrengung verteuert, wird sie unterlassen.
Zeit, die ökonomische Logik zu korrigieren. Nur dann wird Mehrarbeit zur Chance statt zur Gefahr.
Helga Boss ist selbstständige Unternehmensberaterin, Dozentin an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg und Mutter von zwei Kindern.