Streiflicht: Warum wir Danke sagen

„Danke“, sagt der Chef und breitet die Arme weit. Am Ende seiner Rede macht er eine kleine Pause, ehe er den Höhepunkt setzt: „Danke, für …“ Die Leistung, das Hiersein, den Einsatz. Die Vokabeln variieren. Dabei suchen seine Augen alle Frauen und Männer im Saal zu erfassen. Kennen Sie diese Porträtgemälde in Öl, die den Betrachter immerzu anschauen? So wäre er jetzt gerne. Aber niemand kann 150 Menschen gleichzeitig in die Augen schauen, niemand aus Fleisch und Blut.
So bleibt die Rede Stückwerk, wie sich ja auch ein ganzes Jahr mütterlicher Zuwendung nicht an einem Muttertag vergelten lässt. Und doch ist die Geste ehrlich gemeint: „Danke“, die fünf Buchstaben besagen, dass wir allein aufgeschmissen wären. Der Chef wäre kein Chef ohne Belegschaft, der Vater kein Vater ohne Familie, die Freundin ein beliebiger Mensch ohne ihr Gegenstück. Mehr noch: Sie alle – vom Villenbesitzer bis zum Obdachlosen – teilen den menschlichen Charakterzug der Bedürftigkeit und Verletzlichkeit.
Alle Menschen sind potenziell bedürftig. Jederzeit können wir erkranken. So trägt die Weihnachtsfeier, die später überschäumende Züge annimmt, eine demütige Botschaft im Kern. Wer ehrlich Danke sagt, ist sich seiner eigenen Hilfsbedürftigkeit bewusst. Der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio würde sagen: Das Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit fordert dazu auf, sich für die Besonderheit des anderen zu interessieren.