Kommentar: Europa allein zu Haus?

VN / HEUTE • 16:16 Uhr
Kommentar: Europa allein zu Haus?

Zurzeit hat Frau Ammann das Gefühl als werde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. So gewalttätig fühlen sich die Kräfte an, die am Werk sind. Aus West und aus Ost. Wir hatten uns zu sehr auf vermeintliche Sicherheiten verlassen. Amerika, Vertrauen, Vernunft. Alle drei im Orkus. Bis zu den 90er Jahren war’s ja immer aufwärts gegangen.

Man hatte sich im Lauf der Jahrzehnte mit dem kalten Krieg abgefunden, mit der Balance der Supermächte, in der Hoffnung, die Hochrüstung nuklearer Abschreckung würde einen stabilen Frieden sichern.

Das Waffenarsenal war ja prächtig genug, um die Welt gleich zehnmal zu zerstören. Das führte zur beruhigenden Gewissheit: Wer als erster den roten Knopf drückt, ist als zweiter tot. Und die Hoffnung hatte sich tatsächlich erfüllt – Friede, länger als je zuvor.  In diesem Biotop konnte der „Westen“, als ideelles und wirtschaftliches Wertesystem, im Kielwasser von sozialer Marktwirtschaft und liberaler Demokratie zum Sieg segeln.

Inzwischen wissen wir:  Triumphe können auch blind machen oder blauäugig. In der Hoffnung, unsere Sicherheit würde im Schoß der Amis gut aufgehoben sein, lehnten wir uns zurück. Wer konnte schon ahnen, dass die USA innerhalb einer Dekade zu einer faschistoiden Theokratie verkommen.

Nun haben wir’s schwarz auf weiß: Die neueste „Nationale Sicherheitsstrategie“ aus dem Weißen Haus, zusammengekleistert von einem Thinktank aus Tech Oligarchen, lässt Europa endgültig im Regen stehen. Mehr noch: Die Herren planen „innerhalb europäischer Nationen jeden Widerstand gegen den gegenwärtigen Kurs Europas zu fördern“. Im Klartext, man will die rechtsradikalen Parteien am Kontinent unterstützen, weil sie die Welt wie MAGA Amerika sehen.

Sind wir jetzt also allein zu Haus?

Von wegen. Frau Ammann hält nichts vom Trübsal blase, im Gegenteil. Sie sieht eine große Chance für Europa, endgültig die Nabelschnur zur Schutzmacht zu kappen und sie pocht auf die Stärken, die diesen Kontinent zum erfolgreichsten Friedensprojekt der Menschheitsgeschichte gemacht haben. Die EU steht , trotz aller Mängel, für einen kreativen Kraftakt der Vernunft unterschiedlichster Nationen und einer erfolgreichen Selbstreflexion, die nach einem blutigen Jahrhundert zu einem kollektiven Konsens unter den Völkern gefunden hat. Also nochmal aufrüsten für den Frieden?  Ein Artikel in der„ ZEIT“  trifft den richtigen Ton, meint Frau Ammann.  „Ein Europa, das entschieden gegen Russland vorgeht, erschwert es den USA, die Europäer zu erpressen…… die eingefrorenen russischen Zentralbankvermögen müssen beschlagnahmt werden. Gefällt den Russen nicht? Sollen sie doch klagen. Ungarn hintertreibt solche Bemühungen? Dann muss es wohl sein Stimmrecht in der EU verlieren.“ In diesem Ton geht’s weiter. Ärmel aufkrempeln, selbstbewusstes Europa, die Zügel straffen. Kopf hoch, meint Frau Ammann, Trump wird die Midterms und Orban die nächste Wahl verlieren. Fröhliche Weihnachten!

Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.