„Mehl schickte man nach Wien“

Vorarlberg / 30.07.2014 • 19:20 Uhr
 Anna Hämmerle ist mit 108 Jahren die älteste Vorarlbergerin.  Foto: VOL.AT
 Anna Hämmerle ist mit 108 Jahren die älteste Vorarlbergerin. Foto: VOL.AT

Anna Hämmerle ist 108 Jahre alt. Sie erinnert sich an das Elend im Ersten Weltkrieg.

Lustenau. 108 Jahre alt! Man muss sich das vorstellen. Monarchie erlebt, erste Republik, Nazi-Zeit, zwei Weltkriege und mittlerweile 69 Jahre Zweite Republik. Ein Leben vom Pferdefuhrwerk-Zeitalter bis hin zur digitalen Revolution. Letzteres ging an Anna Katharina Hämmerle freilich spurlos vorbei. Heute sitzt die geistig noch rüstige Greisin in der Küche ihres Wohnhauses und lässt sich als Sensation feiern. Sie ist ja längst schon nicht nur die älteste Lustenauerin, sondern auch die älteste Vorarlbergerin. Und eine der ganz wenigen in Österreich, die sich noch an den Ersten Weltkrieg erinnern können.

Reim über den Kaiser

„Den Kaiser hab’ ich noch gesehen“, sagt sie mit einem spitzbübischen Lächeln und vermischt dabei etwas Fantasie und Realität. Ihre Anekdote, der zufolge der Monarch kurz vor Ausbruch des Krieges in Lustenau gewesen sein soll, deckt sich nicht mit den historischen Fakten. Franz Joseph war für die Kinder damals dennoch eine allgegenwärtige Größe. „Der Kaiser ist ein lieber Mann, er wohnt im schönen Wien. Und wär es nicht so weit von hier, dann ging ich heut’ noch hin“, zitiert Anna Hämmerle noch heute den damals beliebten Reim über das Oberhaupt der Monarchie.

Des Pfarrers Frage

Als der Krieg dann kam, erinnert sich die heutige Ururoma vor allem an eine Begebenheit. „Ich war mit meinem Vater vor der Kirche. Da stand der Pfarrer auf den Stufen vor dem Eingang. ‚Wollt ihr alle in den Krieg?‘, rief er in die Menge. ‚Ja‘, schrien sie. Ich weiß noch, wie mir mein Vater daraufhin sagte: ‚Die haben keine Ahnung, was das bedeutet‘.“ Anna Hämmerle war damals acht Jahre alt.
Die düstere Zeit, die folgte, hat sich bei der 108-Jährigen tief eingegraben. „Der Vater musste nach Wöllersdorf in eine Munitionsfabrik. Er war damals schon zu alt für den Krieg. Gott sei Dank.“ Zu Hause in Lustenau hielt die Not bald Einzug. „Immer wieder gab es Meldungen über gefallene Lustenauer. Wir litten Hunger. Ich vergesse nie, wie wir nie satt waren.“ Fast alles Mehl und fast alle Kartoffeln habe man damals nach Wien schicken müssen. „Wir aßen vor allem Stockrüben.“ Weil sie keine Landwirtschaft besaßen, sei es ihrer Familie nicht so gut gegangen. „Als der Krieg dann vorbei war, wurden die Brücken in die Schweiz geöffnet. Da durften wir Kinder dann hinüberlaufen und bekamen Brot, so viel wir essen konnten. Wir wurden damals zum ersten Mal wieder richtig satt. Wir kannten das nicht mehr.“

Das Wort „Krieg“

Allein die Erwähnung des Wortes „Krieg“ löst bei Anna Hämmerle immer noch Unbehaglichkeit aus. Sie schüttelt den Kopf. „Ein Krieg bringt so viel Elend. Und trotzdem tun die Menschen das.“ Anna Hämmerle hatte das Glück, viele Jahrzehnte in Frieden zu leben. Eingebettet in eine Familie, die sich rührend um sie kümmert, und in der sie ein biblisches Alter erreichen durfte.

Der Krieg bringt so viel Elend. Und trotzdem tun Menschen das.

Anna Hämmerle
 Kaiser Franz Joseph 1909 am Bregenzer Bahnhof. 1914 brach der Krieg aus.   foto: vn
 Kaiser Franz Joseph 1909 am Bregenzer Bahnhof. 1914 brach der Krieg aus.   foto: vn