„Kind muss ins Gymnasium“

Vorarlberg / 15.07.2015 • 21:04 Uhr

Die Aufnahme in eine Vorarlberger AHS ist oft eine Sache glücklicher Umstände.

Schwarzach. Chancengerechtigkeit ist in der Bildungspolitik ein viel verwendetes Schlagwort. Ein Ideal, das jeder, ungeachtet seiner ideologischen Haltungen, zu verfolgen vorgibt. Spätestens bei den Zehnjährigen gerät dieser Anspruch in Misskredit. Dann nämlich, wenn es für die frischgebackenen Teenager heißt: Gymnasium oder Mittelschule.

Jenes Viertel der knapp 4000 Ankömmlinge in der Sekundarstufe, das es in Vorarlberg in eine AHS schafft, rekrutiert sich nicht zwingend aus den besten Volksschülern im Land, sondern vor allem auch aus solchen, die in der Nähe eines Gymnasiums wohnen und/oder deren Eltern in den Volksschulen entsprechend Druck auf die Lehrer ausüben. Die Studien des Forschungsprojekts „Schule der Zehn- bis 14-Jährigen in Vorarlberg“ entlarven die vermeintliche „Elite“ der Gymnasien, welche zudem einem Bundesländervergleich nicht standhält. Obwohl Vorarlberg mit Tirol die geringsten AHS-Unterstufe-Aufnahmezahlen aufweist, rangiert das westlichste Bundesland bei den Maturaergebnissen im unteren Drittel.

Gnade des Wohnorts

In Vorarlberg kommen vor allem jene Schüler in eine gymnasiale Langform, die im Umkreis einer AHS wohnen. In Bregenz mit seinen vier gymnasialen Langformen etwa wechselten nach dem Schuljahr 2013/2014 46 Prozent der Volksschüler in ein Gymnasium, in Dornbirn (zwei AHS) waren es 38 Prozent, in Feldkirch (zwei AHS) 31 Prozent. In den Talschaften sind es maximal ein knappes Viertel, im Bregenzerwald gar nur zwei Prozent aller Volksschüler, die in eine AHS-Langform übertraten. Fazit: Je weiter weg von einem Gymnasium die Viertklässler wohnen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort auch landen.

Großer Druck

Ein weiterer Faktor für die Durchlässigkeit ins Gymnasium kommt hinzu: Der Druck, den Eltern auf Lehrer der vierten Klasse Volkschule ausüben. „Dieser ist oft sehr groß“, erzählt Reinhard Schatzmann (59), Direktor an der VS Rohrbach in Dornbirn. „Da gibt es Elternteile, die mir schon in der ersten Klasse mitteilen: ‚Das Kind muss ins Gymnasium‘“. Im Rohrbach wechseln nach dem abgelaufenen Schuljahr 27 der 69 Abgänger in eine AHS. Für Schatzmann ist klar: „Es muss eine spätere Trennung her. Man versucht ja teils schon von außen, uns Volksschuldirektoren auseinanderzudividieren.“

„Müs git Müs“

Anlass dazu geben unter anderem hohe Abgängerzahlen ins Gymnasium, wie etwa heuer an der Volksschule Schoren. Von dort wechseln 24 der 57 Abgänger ins benachbarte BRG, was Direktor Klaus Schwärzler (51) folgendermaßen erklärt: „Wir hatten heuer einen außergewöhnlich guten Jahrgang bei den Abgängern, viele Kinder aus bildungsnahem Milieu. Und ‚Müs git eben Müs‘“, ist für Schwärzler logisch.

Dass es nicht mehr auf die „Müs“ ankommt, damit ein Kind auf den richtigen Bildungspfad findet, will Landespflichtschulinspektorin Karin Engstler (58). „Wir müssen uns mittelfristig um ein gerechteres Beurteilungssystem an der Schnittstelle zur Sekundarstufe bemühen. Eine reine Ziffernnote ist dafür zu wenig.“ Dafür wurde eine Arbeitsgruppe, bestehend aus zwei AHS-Direktoren, zwei Volksschulleitern, einem Mittelschuldirektor sowie den Inspektoren Christine Schreiber (AHS) und Karin Engstler (Pflichtschulen) eingerichtet. Langfristig kann laut Karin Engstler aber nur eine spätere Bildungswegentscheidung das Problem beseitigen.

Wälder sind besser

Wie sehr die Eltern bei der Notengebung in der Volksschule eine Rolle spielen, belegen Zahlen aus dem Forschungsprojekt. Demnach gibt ein knappes Drittel der Lehrpersonen der dritten und vierten Schulstufe zu, dem Wunsch der Eltern zu entsprechen und bessere Noten zu geben, damit die Kinder ins Gymnasium kommen.

69 Prozent der befragten Lehrer sind mit offen ausgesprochenen Erwartungen der Eltern konfrontiert, 15 Prozent sogar mit Drohungen. Auffallend auch: In den Ballungszentren verlassen mehr Schüler mit Sehr gut in den Hauptfächern die Volksschulen als in ländlichen Gegenden.

Andererseits sind zum Beispiel die Kompetenzen von Kindern im Bregenzerwald höher als jene von Kindern mit vergleichbaren Noten in der Stadt Bregenz.

Eine Ziffernnote allein ist für eine Beurteilung zu wenig.

Karin Engstler

Der Druck, den Eltern auf die Lehrer ausüben, ist oft groß.

Reinhard Schatzmann